Warten auf den Frühling

In dieser kleinen Bonus-Geschichte erhältst du einen Einblick, was nach dem Ende von „Wenn der Frühling vergeht“ noch weiter passiert ist:
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Warten auf den Frühling

Dunkelheit. Undurchdringbare pechschwarze Dunkelheit. Und ein dumpfes Gefühl der Wut tief in meiner Brust. Wut und Enttäuschung. Ich hörte Stimmen, die ich nicht verstehen konnte. Ein stetiges Gemurmel immer im Hinterkopf, das vorbei plätscherte, wie das Rauschen eines Flusses. Und plötzlich war da ein Licht. »Es gibt eine Geschichte, die ich dir schon solange erzählen wollte.« Ich blinzelte verwirrt und sah mich um. Ich saß in meinem Lieblingscafé, wo ich die letzten Monate so oft mit Jared frühstücken war. Er saß mir gegenüber, hielt meine Hand und sah mich mit so unglaublich traurigen Augen an. Wie war ich hierher gekommen? Ich erinnerte mich daran, dass ich wütend auf ihn war. Auf das gebrochene Versprechen. Darauf, dass er mir zwar sagen konnte, dass er mich liebte, aber trotzdem nicht den Mut fand, vor der Welt für mich einzustehen. Dieser Schmerz, der damit einherging, immer der Mann in den Schatten zu sein. Aber jetzt war ich so wehmütig glücklich darüber, Jared zu sehen. Seine Hand zu spüren, die meine festhielt. Ich wollte etwas sagen, aber mir fielen keine Worte ein und ich bekam die Lippen nicht auseinander, als wären sie zusammengenäht. Irgendwie kam mir das in diesem Moment nicht einmal seltsam vor. Jared leckte sich über die Lippen. »Von einem Jungen, der strahlte wie die Frühlingssonne«, fuhr er fort und dann erzählte er mir die Geschichte. Unsere Geschichte. So, wie ich sie noch nie gehört hatte. Sein Blick darauf ähnelte meinem in vielen Punkten, aber unterschied sich in anderen so sehr. Manches führte er ins Detail aus, was ich fast vergessen hatte; andere Ereignisse, die unsere Beziehung für mich geprägt hatten, überging er. Aber er teilte mit mir all die Gefühle, die er mir damals nicht anvertraut hatte. All seine Ängste legte er vor mir offen. All seine Schuld. Diese furchtbare Schuld, die er sich selbst nicht vergeben konnte. Es war seltsam, ihn so reden zu hören. Ich verstand nicht, warum er mir das alles hier in diesem Café erzählte. Ich verstand nicht, warum ich das Gefühl hatte, als stände die Zeit still. Unverändert schien die Morgensonne durch das Schaufenster, dabei vergingen sicher Stunden. Irgendetwas an diesem Café war anders. Und noch andere Dinge waren seltsam. Wie Jareds Gesicht manchmal ausdruckslos wurde und ich wieder diese rauschenden Stimmen hörte. Und wie er dann zu irgendjemandem sprach, der nicht ich war, in einer Stimme, die nur ein verzerrtes Murmeln war. Ein banges Gefühl der Angst legte sich um mein Herz. Ich kramte in meiner Erinnerung. Was war passiert, bevor wir ins Café gegangen waren? Warum war ich hier? War ich nicht wütend aus seiner Wohnung davongelaufen? Enttäuscht und verletzt von unserem letzten Streit? Als er das Ende der Geschichte erreichte, verstand ich, und mir wurde schlecht. Ich lag im Sterben. Ich war nicht in einem Café. Ich lag in einem Krankenhausbett. Der Geruch der mich umgab veränderte sich. Ich roch nicht mehr frisches Gebäck, Kaffee und Tee. Ich roch muffige Luft, Desinfektionsmittel und Tod. Ich wollte nicht sterben. Das durfte nicht sein. Hilflos sah ich Jared an und zum ersten Mal wurde mir klar, dass er mich überhaupt nicht wirklich sah. Dass ich für ihn auch schon tot war. Nur eine leblose Hülle, zu der er sprach. Meine Kehle wurde eng. Er ließ mich los und ging. Ich fühlte mich leer. Es war vorbei. Unsere Geschichte war zu Ende und mir blieb nichts anderes übrig, als zu sterben. Doch er kehrte um, nahm abermals meine Hand. Und dann erfüllte er endlich nach all den langen Jahren das Versprechen, das uns auseinandergerissen hatte. Er hatte endlich gelernt, frei zu sein und mutig. Das durfte doch jetzt nicht zu spät sein! Er drückte meine Hand fest und beugte sich dann vor. Ein kurzer zaghafter Kuss auf die Lippen. »Leb wohl. Ich liebe dich. Für immer.« Und dann wollte er wieder gehen. Aber diesmal konnte ihn nicht gehen lassen. Ich hielt seine Hand fest, ich hielt ihn fest. Denn er war mein Licht und er würde mich aus der Dunkelheit führen. Mühsam öffnete ich den Mund. Es fühlte sich an, als zerriss meine Haut. »Lass mich nicht gehen«, presste ich hervor. »Nimm mich mit dir.« Jetzt war es an mir, zu kämpfen und mutig zu sein und alles zu tun damit mein Traum doch noch in Erfüllung ging. * * * Es war kein Dornröschenkuss, der Orville auf wundersame Weise aus dem Koma zurückholte und alles mit einem Schlag wieder gut werden ließ. Aber es war ein Anfang, ein allererster Schritt. Die erste Reaktion in vierundneunzig Tagen. Das erste Zeichen, dass er nicht aufgegeben hatte. Dass wir ihn nicht aufgeben durften. Als sie die Beatmungsgeräte zurückfuhren, war es kein verzweifelter Weckruf, sondern ein langsames Entwöhnen. Langsame, kleine Schritte, die ihn lehrten, wieder selbstständig zu atmen. Ab dem Tag, diesem wundersamen Tag, an dem er meine Hand gedrückt hatte, ging es endlich aufwärts. Kleine Zuckungen der Finger und Lider – nur Reflexe, aber mehr, als er bisher gezeigt hatte. Anfang Dezember schlug er das erste Mal die Augen wieder auf, aber sein stumpfer Blick wanderte ziellos durch den Raum, nahm noch nichts wahr. Da war noch kein Leuchten in seinen Augen, kein Erkennen. Ich musste geduldig sein, ihm Zeit lassen – der Kampf zurück ins Leben war nie einfach. Aber wenn Orville eines war, dann ein Kämpfer. In jeder freien Minute saß ich an seinem Bett, hielt seine Hand und erzählte ihm, wie ich mir unsere gemeinsame Zukunft vorstellte. Eine kleine Wohnung in Brooklyn für uns beide. Ein Hund. Oder eine Katze. Mir wäre beides recht, aber ich glaubte, dass Orville mehr ein Katzenmensch war. Ich hatte mir immer Haustiere gewünscht, aber meine Eltern waren dagegen gewesen. Und wenn ich anfing, mir über Haustiere Gedanken zu machen, dann stellte ich mir bald schon vor, wie es sein würde, wenn wir gemeinsam Kinder hätten. Es war so seltsam, so unglaublich hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken, obwohl wir noch so viele Hürden hatten, die wir überwinden mussten. Aber die Hürde, vor der ich immer so viel Angst gehabt hatte, stellte sich als halb so schlimm heraus. Nachdem ich meinem Vater offen und schonungslos die Wahrheit gesagt hatte, nachdem ich ihm klargemacht hatte, dass ich es nicht wieder zurücknehmen würde, brach er den Kontakt zu mir ab. Er rief mich nicht einmal an. Ich erhielt nur eine erboste SMS, dass ich nicht länger sein Sohn wäre. Und ich erkannte, dass mir nichts fehlte. Schon vorher war da keine Liebe zwischen uns gewesen. Nicht von seiner Seite. Diese Erkenntnisse war wahrscheinlich das Erstaunlichste an dem Ganzen. Ich hatte mir Sorgen gemacht, etwas zu verlieren, was ich nie besessen hatte. Was ich mir immer nur gewünscht hatte. Das hinterließ einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge, aber durchflutete mich auch mit Erleichterung. Jetzt, wo er keine Macht mehr über mich hatte, konnte er mich auch nicht mehr verletzen. Und Mutter hatte bei Luke schon gelernt, es zu akzeptieren. Ihn fast zu verlieren, das hatte sie tatsächlich aufgerüttelt, ihr endlich ins Gedächtnis gerufen, dass wir ihre Kinder waren. Dass sie nach Lindsays Tod nicht aufgehört hatte, eine Mutter zu sein. Uns beide so stark zu sehen, half auch ihr einen Schlussstrich zu ziehen. Sie trennte sich von Vater und zog nach London, wo sie auf Marys Wohnung aufpasste, während diese in New York an Orvilles Seite ausharrte. Sie gab sich Mühe, ihre Fehler wieder gut zu machen und fragte mich bei jedem Telefonat, wie es Orville ging. Sie freute sich über jeden klein Hoffnungsschimmer am Horizont. Ich hatte einen Vater verloren, den ich nie besessen hatte, und eine Mutter gewonnen, nach der ich mich immer gesehnt hatte. Auch Mary und Maxim wurden nach und nach zu einer Familie für mich. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich frei und alles wendete sich zum Guten. Zu meinem Glück fehlte mir nur noch eines: dass Orville wieder aufwachte. Dass das Bangen und die Sorgen ein Ende fanden. Ich hoffte so sehr auf ein kleines Weihnachtswunder. Aber die Feiertage verstrichen, ohne dass etwas passierte. Das Wunder geschah mit ein bisschen Verspätung. »Ich muss zur Arbeit«, flüsterte ich ihm an Silvester frühmorgens zu. Ich hatte die Bereitschaft an seinem Bett verbracht, wie so oft in den letzten Monaten. Abseits meiner Arbeit gehörte jeder Moment uns. Ich drückte seine Hand. »Sobald meine Schicht vorbei ist, komm ich zurück. Dann können wir zusammen ins neue Jahr feiern.« Luke und Alden hatten mich zu sich eingeladen, aber ich wollte hier sein. Nur für den Fall. Ich strich ihm das Haar aus der Stirn, beugte mich vor und drückte ihm einen Kuss auf die kühle Haut. Dann sah ich ihn an und küsste ihn ganz sanft auf die Lippen. Sie war naiv, diese Hoffnung, dass ich ihn doch noch mit einem Kuss der wahren Liebe aus dem Schlaf erwecken könnte. Aber ich wollte sie nicht aufgeben. Die Hoffnung und den Glauben, an die Magie zwischen uns. »Ich liebe dich«, flüsterte ich und wandte mich ab. Da sah ich es aus dem Augenwinkel. Das leichte Zucken seiner Lider. Vorsichtige Hoffnung stieg in mir auf. Es muss nichts bedeuten. Er hat schon öfter die Augen geöffnet, ermahnte ich mich. Ich beugte mich über ihn, und er schlug die Augen auf. Einen Moment wanderte sein Blick ziellos umher, mein Herz sank bereits, doch dann fanden seine Augen meine und blieben daran hängen. Nur ein Zufall. Hoffe nicht zu sehr. Aber er sah nicht weg. Er sah mir direkt in die Augen mit einer Klarheit im Blick, die bisher gefehlt hatte. Ich drückte seine Hand, und er erwiderte den Druck. »Siehst du mich?« Seine Augen klebten weiterhin an meinen und der Druck seiner Hand wurde stärker. Ich lächelte. »Vielleicht bleibe ich doch noch ein bisschen bei dir.« Und dann erwiderte er mein Lächeln. * * * Meine Finger zitterten. Ich spreizte sie auseinander, dann ballte ich die Hand zu einer Faust und ließ sie schließlich erschöpft in meinen Schoß sinken. »Dass es jemals so weit kommen würde, dass mich danach sehnte, wieder Klavier spielen zu können.« Ich lachte auf. »Daran hätte ich niemals geglaubt.« »Dabei hättest du jetzt die beste Ausrede, es nie wieder zu tun.« Jared beugte sich vor und fuhr mit den Fingern durch mein Haar, küsste mich auf den Scheitel. »Ich werde den Tag rot im Kalender anstreichen.« »Ich hoffe, dass du den heutigen Tag so oder so im Kalender rot angestrichen hast. Schließlich es ist unser Jahrestag.« Er lachte leise und schob mich im Rollstuhl ein Stück weiter den Weg entlang. Die kalte Februarluft brannte mir in den Lungen. Sie war klar und angefüllt von der Hoffnung auf den nahenden Frühling. Der kleine Park des Krankenhauses war wie eine Enklave inmitten der Großstadt und für einen Moment erinnerte ich mich zurück an den Sommer in Manderley Manor. An die Spaziergänge dort. Die Stille und Abgeschiedenheit. Ich stellte mir vor, diesen Sommer mit ihm spazieren zu gehen. Noch ein halbes Jahr, um es wieder zu lernen. Die letzten Monate waren hart gewesen. So viel, was ich wieder lernen musste. Zu sprechen. Zu essen. Meine Hände zu benutzen. Aufzustehen und mit dem Rollator ein paar wackelige Schritte zu gehen. Es bis zur Toilette zu schaffen war schon ein großer Sieg. Ich hätte nie damit gerechnet, es nie erwartet, wie glücklich mich so einfache Dinge machen konnten. Dinge, die ich bis dahin selbstverständlich gefunden hatte, musste ich jetzt neu erlernen wie ein kleines Kind. Aber ich wusste, mit Jared an meiner Seite würde ich das schaffen. Ich würde die verlorene Zeit wieder aufholen. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zu Jared auf. »Kannst dir das vorstellen, ich habe tatsächlich fast die Hälfte unserer Beziehung verschlafen.« Er schüttelte den Kopf. »Genau genommen hast du mehr als die Hälfte verschlafen, da ein Mensch im Schnitt sowieso ein Drittel des Jahres schläft. Das gilt aber auch nur, wenn die Zeit damals nicht mitzählt.« Ich verdrehte die Augen. »Du verstehst einfach keinen Spaß.« »Das hatten wir doch schon bei unserer ersten Begegnung geklärt.« Ich lächelte. »Und so schließt sich dann der Kreis.« »Nein. ›Schließen‹ klingt so sehr danach, als wäre das hier zu Ende. Aber es fängt doch gerade erst an. Wir haben endlich den harten Winter überwunden. Es ist Zeit für uns aufzublühen und wirklich zu leben.« »Du alter Romantiker«, neckte ich ihn. Leben. Das würden wir. Ich blickt auf die Wiese, wo sich ein erstes Schneeglöckchen durch das Weiß hinauf kämpfe. Der erste Bote des Frühlings, der jetzt endlich zurückkehrte. ENDE
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