Mit gebrochenen Flügeln … wieder fliegen


Wie geht es nach dem Ende von „Die Saiten meines Herzens“ mit Alden und Luke weiter? Das erfährst du in zwei kleinen Bonus-Geschichten:

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Mit gebrochenen Flügeln …

Luke

Es heißt, dass Zeit alle Wunden heilt – wie viel Zeit würden wir noch brauchen, bis die Narben nicht mehr aufbrachen, wenn man sie schon fast vergessen hatte?

Zitternd setzte ich mich im Bett auf, rieb mir den kalten Schweiß aus dem Gesicht, drängte die Bilder zurück, die albtraumhaft hinter meinen Lidern aufflackerten.

Ich griff nach der Wasserflasche, die auf dem Nachttisch stand, und trank zwei tiefe Schlucke in der Hoffnung, dadurch den pelzigen Geschmack auf meiner Zunge wegzuspülen. Aber gegen den Geruch verbrannter Haut in meiner Nase konnte ich nichts tun. Ich kratzte mich am Oberarm, wo die Narbe immer noch juckte, obwohl die Verletzung längst abgeheilt war.

Die letzten Monate war ich der naive, dumme Junge gewesen, der ich gerade nicht sein wollte. Impulsiv, rebellisch, undurchdacht, nur um trotzig an meinem Ziel und meinen selbstgesteckten Idealen festzuhalten. Ich war vor Alden davongelaufen, weil ich zu stur war, um einzusehen, dass ich mich in einer Sackgasse befand. Dass meine Ziele vielleicht hehr waren, aber ihre Durchführung doch zu Wünschen übrig ließ. 

Ich hätte fast den Mann verloren, in den ich mich verliebt hatte, weil ich die Rückkehr in die Welt zu sehr scheute, die mich mein ganzes Leben lang erstickt hatte. Dabei war die Welt, die er mir bot, so ganz anders als die Erinnerungen an meine Kindheit.

In seiner Welt konnte ich frei sein und meinem Herzen folgen, ohne dafür verurteilt zu werden. Er zwang mich nicht dazu, jemand anderes zu sein, nahm mich genauso, wie ich war, mit all meinen Fehlern. Half mir, stärker zu werden, an meinen Herausforderungen zu wachsen und einen neuen Weg für mich zu finden.

Das alles hier war so perfekt, dass es mir wie ein Traum erschien. Und jedes Mal, wenn ich erwachte, fürchtete ich, wieder in einer zugigen Seitengasse zu liegen, in meinem Schlafsack, der nicht annähernd gegen die eisigen Temperaturen des New Yorker Winters ankam. Ich fürchtete, dass mich der beißende Geruch verbrennenden Mülls wecken würde, wenn irgendjemand morgens ein Feuer gegen die Kälte entfachte.

Doch bisher hatte der Traum angehalten.

Ich schmiegte mich an Alden, atmete den Duft seiner Haare und seiner Haut ein. Sauber, nach Seife, Shampoo und einem letzten dünnen Hauch After Shave. Meine empfindliche Nase hatte mir in den letzten Monaten wirklich das Leben schwer gemacht. Ich schmunzelte. Wie viel leichter würde mein Leben jetzt wohl werden? Und gleichzeitig, wie viel schwieriger?

Ich könnte nicht länger vor meinen Eltern davonlaufen, vor meinem Bruder – hatten sie sich wirklich um mich Sorgen gemacht, oder nur um ihr Image? Wenn sie die Wahrheit erfuhren, was ich die letzten Monate getan, wie ich gelebt hatte, dann würde ich endgültig zum Schandfleck meiner Familie werden.

Der Gedanke zog mir die Kehle zu. Was würden Aldens Eltern denken, wenn sie erführen, wie wir uns in Wirklichkeit kennengelernt hatten? Oder konnten wir die Wahrheit tatsächlich für immer vor ihnen und dem Rest der Welt verbergen? Wollte ich für immer verheimlichen, für welches Leben ich mich einmal entschieden hatte?

Schließlich war es meine Entscheidung gewesen. Meine freie Entscheidung. Niemand hatte mich dazu gezwungen.

Ein Teil von mir bereute es bis heute nicht. Ohne den dunklen Weg, den ich damals eingeschlagen hatte, wäre ich Alden vermutlich niemals begegnet. Dann wäre ich jetzt nicht so glücklich.

Glücklich …

Meine Mundwinkel schmerzten, so ungewohnt fühlte sich das Lächeln an, das ich in den letzten anderthalb Wochen kaum mehr aus dem Gesicht bekommen hatte.

Alden stieß ein leises Knurren aus und rollte sich auf die Seite. Ein Zittern ging durch seinen Körper, und er ballte die Hände zu Fäusten, so gut, wie es mit den geschwollenen Gelenken ging. Inzwischen hatte ich oft genug neben ihm geschlafen, um seine Albträume zu erkennen. Und ich wusste genau, was ich zu tun hatte.

Zaghaft strich ich ihm über die Wange und flüsterte seinen Namen, bis das Zittern nachließ, zog ihn dann langsam in meine Arme.

Oft genug hatte ich ihn so tröstend in den Arm genommen. Oft genug hatte er das Gleiche bei mir getan. Seine bloße Nähe beruhigte mich, und jedes Mal aufs Neue verwunderte es mich, wie er diesen Zauber auf mich wirken und mir alle Angst, alle Sorgen für einen Moment nehmen konnte.

»Alles gut«, flüsterte ich. »Es ist nur ein Traum. Nur ein Traum.«

Aldens Atmen beruhigte sich. »Nur ein Traum, ja«, murmelte er abgehackt. »Ich werde nie wieder auf einer Bühne stehen.«

»Das ist nicht wahr, das weißt du.«

Sein Körper spannte sich kurz an. »Nie wieder mit meiner Violine.«

Ich strich ihm über den Rücken, ließ die andere Hand in seinem Nacken ruhen. »Nicht mit deiner Violine, aber mit deiner Stimme wirst du das Publikum verzaubern.«

Abfällig schnaubte er. »So optimistisch bin ich nicht.«

»Dann bin ich es für uns beide.« Er hatte es zwar nicht zugegeben, aber ich war mir dennoch sicher, dass es an seinem Stolz gekratzt hatte, dass er bei dem Vorsingen nicht in die engere Auswahl gekommen war. Doch ebenso war ich mir sicher, dass ihm nur das ausreichende Gesangstraining fehlte, um gut genug für die Juilliard zu werden. Dafür hatte er jetzt ein Jahr Zeit. Parallel dazu wollte er sich für Komposition bewerben – nur zu deutlich konnte ich ihn vor mir sehen, wie er gekrümmt und mit verbissener Miene über dem Klavier saß, immer wieder die gleichen Noten anschlug und Notenhefte mit seinen Stücken füllte. Das würde zu ihm passen – er hatte genug Biss und Talent dafür. Dennoch wollte ich ihn viel lieber auf der Bühne sehen. »Singst du es noch einmal für mich? ›Evermore‹

»Ich … ähm.« Es war dunkel, trotzdem erkannte ich, dass sein Nacken sich tiefrot färbte. »Ich muss es noch ein bisschen mehr üben, bevor ich es dir noch einmal vorsingen kann.«

»Das erste Mal war wunderschön.«

»Nicht schön genug«, sagte er grimmig.

»Schön genug, dass mir klar wurde, dass du alles bist, was ich haben will.«

»Und trotzdem bist du weggelaufen.«

»Weil ich Angst vor meinen eigenen Gefühlen hatte. Vor dem, was sie bedeuteten.«

Alden rückte von mir ab und setzte sich auf. »Ich weiß, ich wollte dich nicht drängen, aber … aber hast du dir Gedanken gemacht? Über unsere … über deine Zukunft?« Er klang ungewohnt kleinlaut. »Ich werde dich nicht hier einsperren, wenn du … falls du … es dir anders überlegt hast und lieber …«

Die Sorgen hatten ihn allen Optimismus zum Trotz also nicht verlassen. »Ich werde nicht auf die Straße zurückkehren. Niemals.« Es auszusprechen fühlte sich befreiend an.

Aldens Schultern sanken herab. »Meinetwegen musst du deinen Traum …«

»Es war ein naiver Traum«, unterbrach ich ihn, »der längst ausgeträumt ist. Das war mir schon klar, als ich mich dafür entschied, bei dir zu bleiben.« Ich schluckte. »Ja, es fühlt sich gut an, Menschen Trost zu spenden, wenn niemand anderes das tun kann. Und ja, ich … meistens hat es mir Spaß gemacht oder war zumindest nicht schlimmer, als ein wahlloser One-Night-Stand, aber manchmal …« Die Bilder flackerten wie im Stroboskoplicht vor meinem inneren Auge auf und nur mühsam konnte ich sie zurückdrängen. »Manche Träume sind es wert, jede mögliche Beschwerlichkeit auf sich zu nehmen, die auf dem Weg zur Erfüllung liegt, aber …« Ich schlang die Arme um mich. »Je länger ich hier bin, je länger ich von der Straße und all ihren Gefahren weg bin, umso klarer wird mir, dass mein sturer, kindischer Traum mir nicht genug wert ist, meine Unversehrtheit, mein Leben zu riskieren.«

Alden hob einen Finger. »Und deine Freiheit.«

Ich schloss die Augen. »Genau.« Das, was mir am Wichtigsten war, hatte ich genauso leichtsinnig aufs Spiel gesetzt. Ich war frei von meinen Eltern, von ihren Ansprüchen, von den Verpflichtungen, die das Leben an ihrer Seite mit sich brachte. Aber ich hatte unglaubliches Glück gehabt, dass ich kein einziges Mal festgenommen worden war. Mehr als einmal war Matej für mich in die Bresche gesprungen, als es brenzlig wurde. Er war so oft festgenommen worden, sagte er immer, dass einmal mehr oder weniger keinen Unterschied mehr machte. Vielleicht lag es auch daran, dass er meistens von dem gleichen gutaussehenden Polizisten festgenommen wurde. »Ich war wirklich ein wahnsinnig naiver Junge.«

»Wenigstens siehst du das ein.«

»Und ich gelobe Besserung.«

Schweigend betrachtete Alden mich, kaute auf seiner Unterlippe.

»Worüber denkst du nach?«

»Ich sehe deinen Bruder mehrmals die Woche. Und jedes Mal fragt er mich, ob ich von dir gehört habe. Unermüdlich, obwohl ich es jedes Mal verneine. Auch die letzten beiden Male, als du schon hier warst …«

»Du willst es Jared sagen? Dass ich bei dir bin?«

Er nickte. »Ihr müsst euch ja nicht gleich treffen, aber er macht sich so große Sorgen um dich, da fühle ich mich hinterlistig, ihn zu belügen.«

Ich bleckte die Zähne. »Ich dachte, du bist gut darin, hinterlistig zu sein?«

»Seit ich dich kenne, bin ich das nicht mehr.«

Jetzt war es an mir, rot zu werden. »Hab ich dich tatsächlich verändert?«

»Mehr, als du dir vorstellen kannst.«

Ich schloss die Augen. »Kannst du mir helfen, mich zu verändern? Mutiger zu werden? Nicht mehr davon zu laufen?«

»Das kann ich.«

Tief holte ich Atem. »Dann sag Jared, dass es mir gut geht. Dass er mir gefehlt hat. Und ich ihn gerne wiedersehen würde.«

* * *

Das kleine Café war angefüllt mir schnatternden Menschen, deren Stimmen zu einem stetigen Summen im Hintergrund verschmolzen.

Ich saß mit Alden an einem Tisch in einer Nische hinter einer großen Birkenfeige, wo wir ein bisschen vor den Blicken anderer geschützt waren. Nervös umklammerte ich die Tischplatte. Dunkles, lackiertes Holz, in dem sich verschwommen mein schmales, blasses Gesicht spiegelte.

In wenigen Minuten würde ich mich hier mit Jared treffen.

Mein Herzschlag flatterte, meine Brust war eng. Ich fühlte mich wieder wie ein kleines Vögelchen, das im Käfig gefangen war und mit aller Macht versuchte, einen Weg durch die Gitterstäbe zu finden.

Ich trug Jeans, T-Shirt und Hoodie. Die Kleider, die Alden mir im Goodwill Store gekauft hatte, und die ich als einzige Matej nicht geschenkt hatte. Ich hatte sie behalten, weil ich mich darin wie ich selbst fühlte, wie der ganz normale, einfache Mensch, der ich sein wollte. Aber jetzt fühlte ich mich darin erschreckend unwohl. Das war nicht die Art Outfit, das in meiner Familie getragen wurde, und ich konnte mir deutlich vorstellen, wie meine Mutter bei meinem Anblick abfällig mit der Zunge schnalzte.

Das Glöckchen an der Tür bimmelte, und ich sah erschrocken auf. Eine knochige, ältere Frau trat ein und musterte aus kleinen Knopfaugen den Kuchen in der Auslage. Definitiv nicht Jared. Ich atmete aus. »Glaubst du, er bringt Orville mit? Jetzt, wo die beiden wieder zusammen sind?« Irgendwie musste ich das angespannte Schweigen zwischen Alden und mir brechen.

Alden schnaubte. »Ich hoffe mal nicht. Sonst wird es wieder nur um ihn gehen.«

Ich schmunzelte. »So schlimm ist er auch wieder nicht.«

»Er hat ja auch nicht Monate damit zugebracht, zu versuchen, dich rumzukriegen.«

»Na, zum Glück nicht. Das Ganze hier würde sonst eine sehr peinliche Angelegenheit.« Peinlicher, als es ohnehin schon war. Ich zog an meinem Kragen, obwohl der nicht einmal sonderlich eng war.

Das Glöckchen bimmelte abermals, und ich zwang mich, nicht gleich wie ein erschrockenes Huhn zu reagieren. Ganz langsam hob ich meinen Blick. »Jared«, flüsterte ich. Und Orville, der ihn von hinten in das Café schob und ihm etwas zuflüsterte.

Mein Bruder knetete die Hände. So nervös hatte ich ihn nicht mehr erlebt, seit er das erste Mal mit Orville zusammen gewesen war und unentwegt gefürchtet hatte, sie würden es herausfinden. Als sie es schließlich herausfanden, war es einem Weltuntergang gleich gekommen. Ob sie diesmal von den beiden wussten? Oder nutzte Jared die Freiheit, die New York ihm bot, um es vor ihnen zu verheimlichen?

Orville nickte in unsere Richtung, hob die Hand zu einem knappen Gruß, drehte sich dann um und ging dankenswerterweise.

»Soll ich auch gehen und euch allein lassen?«, fragte Alden.

»Oh, bitte nicht.« Aus Reflex griff ich nach seiner Hand, bereute es gleich, als er vor Schmerzen das Gesicht verzog.

Aber statt seine Hand wegzuziehen, drehte er sie in meiner und verschränkte seine Finger mit meinen. »Gut, dann werde ich bleiben. Du bist nicht allein, vergiss das nie.«

Zögernd kam Jared auf mich zu, sah mich lange an. »Luke«, sagte er schließlich, »da bist du ja.«

»Ja, da bin ich.« Wir hatten uns Monate nicht gesehen und doch nur so einfallslose Dinge zu sagen. Ich wandte den Blick von ihm ab, mein ganzer Körper war bleischwer.

Jared holte Atem und im nächsten Moment schlang er seine Arme um mich, zog mich fast von meinen Stuhl hoch. Seine Wange presste rau gegen meine. »Du hast so sehr gefehlt. Du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr. Wir haben uns alle so viele Sorgen um dich gemacht und …« Er schluchzte. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht.«

»Ihr habt euch Sorgen gemacht? Um mich?«, krächzte ich halb erstickt. Die Vorstellung fiel mir immer noch so schwer.

»Natürlich. Besonders unsere Mutter ist halb krank vor Sorge. Wir hatten solche Angst, dich niemals wiederzusehen. Dass dir etwas zugestoßen ist.«

»Ich hab euch doch die Postkarte geschickt«, erwiderte ich und fand mich selbst wenig überzeugend.

»Danach haben wir uns nur noch mehr Sorgen gemacht.« 

Etwas tropfte auf meine Wange, und ich war mir nicht sicher, ob es meine oder seine Tränen waren. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Mein Schluchzen erstickte alle weiteren Worte und die nächsten Minuten hielten wir uns einfach nur im Arm.

»Unsere Eltern werden sich so freuen, wenn du nach Hause kommst.«

Mein Körper spannte sich an, meine Kehle wurde eng. »Ich will nicht nach Hause«, presste ich mühsam hervor. »Ich kann nicht dorthin zurück.«

Jared ließ mich los, sah mich mit seinem ernsten, Ich-bin-dein-großer-Bruder-also-hör-gefälligst-auf-mich-Blick an. »Was ist so schlimm an unserem Zuhause?«

»Dass … dass …« Der Kloß in meinem Hals wurde so dick, dass ich keinen einzigen Ton mehr hervorbrachte.

»Dr. Thompson«, griff da Alden in das Gespräch ein, »er muss nicht erklären, warum er etwas nicht will. Es ist sein Leben.«

»Dass er fast ruiniert hätte«, brauste Jared auf. »Wir wissen doch beide, was er die letzten Wochen … getrieben hat. Wie gefährlich und leichtsinnig er war.«

Ich fühlte mich winzig klein und hilflos, wie immer, wenn ich bei meiner Familie war. »Ihr erstickt mich«, murmelte ich. Alden drückte meine Hand, gab mir die Kraft, weiterzureden. »Dad und Mum und du. Ihr wollt, dass ich jemand bin, der ich nicht sein kann.« Ich hob mühsam den Blick. »Du weißt doch selbst genau, wie schwer es ist, einen Teil von sich immer verstecken zu müssen.«

Jared schluckte, wich meinem Blick aus. »Ich weiß. Du bist einfach immer noch der kleine Bruder, auf den ich aufpassen muss. Und ich … ich hatte solche Angst, dich für immer zu verlieren. Solche Angst, hierher zu kommen, in ein fremdes Land und bei der Polizei deine Leiche identifizieren zu müssen.«

»Jetzt übertreib nicht …«

»Ich übertreibe nicht. Vielleicht war es eine überzogene Angst, aber ich hatte diese Angst. Diese unbeschreibliche Angst, dich nicht mehr lebend wiederzusehen. Dich vielleicht niemals wiederzusehen und den Rest meines Lebens mit dieser Ungewissheit zu leben, was aus dir geworden ist. Und jeden Tag wurde sie größer.« Er raufte sich das blonde Haar und sah plötzlich viel jünger und verletzlicher aus.

»Mir war nie klar, was ich euch angetan habe.«

»Jetzt bist du ja wieder da. Jetzt ist alles wieder gut.« Er sah sich verstohlen um – wir hatten einige Blick auf uns gezogen – zog dann einen der freien Stühle zurück und setzte sich. »Willst du wirklich nie wieder nach Haus zurück?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Irgendwann vielleicht. Aber nicht so bald. Dieses Haus wird immer wie ein Käfig für mich sein.«

»Du warst nach außen immer so ruhig und besonnen, dass es mir nie aufgefallen ist, wie sehr du unter dem Druck gelitten hast. Die kleinen Ausbrüche über die Jahre verteilt, habe ich immer für die ganz normale jugendliche Rebellion gehalten.«

»Ich hab einfach versucht, es allen recht zu machen.« An Orville und ihm hatte ich gesehen, was passierte, wenn ich das nicht tat. »Bis ich endgültig an dem Punkt angelangt war, dass ich nicht mehr atmen konnte.« Ich schluckte. »Ich will hier bleiben, bei Alden. Vielleicht … fang ich doch noch ein Studium an.«

Jareds Mundwinkel zuckten. »Das solltest du. Schließlich bist du mit einem Studentenvisum hier.«

Mein Magen verknotete sich. »Ähm, wo wir davon reden …«

* * *

Als wir in sein Penthouse zurückkehrten, grinste Alden mich schief an. »Ich habe also einen illegalen Einwanderer beschäftigt.«

Betreten sah ich auf meine Schuhe. »Mein Visum und mein Pass sind mir geklaut worden.« Vor fast einem halben Jahr. Und ich war nie zur Polizei gegangen, aus Angst, dass meine Eltern mich vermisst gemeldet hatten. »Jared wird das schon klären.« Er wollte mit unseren Eltern telefonieren und ihnen erzählen, dass er mich gefunden hatte. Und dass sie hierher kommen mussten, sollten sie mich sehen wollen.

Irgendwie hoffte ich immer noch, dass sie das nicht täten.

Alden knuffte mich in die Seite. »Trotzdem. Deine wertvolle Freiheit hing an einem seidenen Faden.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach, zieh mich nur auf.«

Er legte einen Arm um meine Schulter. »Es war gar nicht so schlimm, wie du es dir vorgestellt hattest, oder?«

»Nein, weil du bei mir warst.«

Er kratzte sich am Kinn. »Viel hab ich ja nicht getan.«

Ich lehnte meinen Kopf auf seine Schulter. »Aber du warst da. Das war das Wichtigste.« Ich presste die Lippen aufeinander. »Wenn du Pech hast, wirst du dann bald meine Eltern kennenlernen.«

Er zuckte mit den Achseln. »Ach, viel schlimmer als meine können sie doch nicht sein und mit denen komme ich auch zurecht.«

»Vielleicht sollten wir sie einander vorstellen.«

»Dann können sie sich gemeinsam über ihr missratenen, unnützen Söhne aufregen.«

Wir lachten gemeinsam und es fühle sich herrlich befreiend an.

Denn gemeinsam würden wir auch das durchstehen.

 … wieder fliegen

Alden

Das Klingeln meines Weckers riss mich aus dem Schlaf. Mühsam schlug ich die Augen auf. Schwaches Dämmerlicht drang durch die Ritze im Vorhang und zeichnete einen hellen Streifen auf das Bett. Suchend tastete ich neben mich.

Ich war allein.

Luke!

Ruckartig setzte ich mich im Bett auf, mein Herzschlag raste. Es dauerte einen Moment, bis ich das Prasseln des Wassers aus dem Bad registrierte und mich wieder beruhigte.

Luke war nicht fort. Er hatte mich nicht wieder verlassen. Er war nur schon aufgestanden, weil er früh zur Arbeit musste. Nicht auf die Straße, sondern ins Saint Jude, wo Jared ihm einen Aushilfsjob in der Kantine besorgt hatte. Dort half er dabei, das Essen für die Patienten anzurichten und es später auszuteilen. Von der Arbeit in der Küche erzählte er wenig, aber wenn es um den Kontakt mit den Patienten ging, da blühte er auf, geriet richtig ins Schwärmen. Krankenpfleger war nicht die Art Beruf, den seine Eltern sich für ihn wünschten, aber er wollte alles daran setzen, zum Herbst einen Platz in einem Community College zu ergattern. Dann wollte er in einem städtischen Krankenhaus in einem der ärmeren Viertel arbeiten, nicht in einem privaten Luxusklotz wie dem Saint Jude. Auch wenn er mir dann nicht mehr neckend unter die Nase reiben konnte, dass er sich heimlich in der Mittagspause mit Melody gegen mich verschwor.

Im Gegensatz zu mir hatte er viel schneller einen neuen Traum gefunden, für den er wirklich brannte.

Ich streckte mich. Meine Knochen knackten, und ich fühlte mich immer noch matt von den Medikamenten, die Dr. Blackbourne mir als letztes verschrieben hatte. Ich fühlte mich wie ein Versuchskaninchen. Wenigstens konnte ich Dr. Blackbourne sagen, dass ich schmerzfrei war. Schmerzfrei, ein bisschen aufgedunsen und immerzu schläfrig. Herzhaft gähnte ich und kletterte aus dem Bett.

Vielleicht lag meine Antriebslosigkeit auch daran, dass die Frist, um im Herbst an der Juilliard ein Studium aufzunehmen, schon längst verstrichen war und ich frühestens in anderthalb Jahren mein neues Studium dort beginnen konnte. Wenn sie mich annahmen. Ein Zeitraum, der unendlich lang erschien – auch wenn mein privater Gesangslehrer immer wieder betonte, dass ich schnellere Fortschritte machen musste, um beim nächsten Vorsingen eine Chance zu haben. Und für Komposition musste ich ein bisschen mehr als ein paar kleine, kurze Melodien komponieren. Und auch wenn beides mir Spaß machte, war es doch nicht ganz das, wofür ich brannte. Nicht so sehr, wie ich für die Violine gebrannt hatte. Aber zumindest nutzte ich meine Zeit wieder produktiv.

Ich seufzte, nahm meine Brille vom Nachttisch und setzte sie auf. Ich öffnete die Vorhänge, ließ das Licht hinein und sah mich im Schlafzimmer um.

Überall sah ich die Spuren, die Luke hinterließ und mich daran erinnerten, dass ich nicht mehr alleine im Penthouse wohnte. Dem goldenen Käfig. Aber bisher hatten wir noch keine Wohnung gefunden, die uns beiden gefiel. Luke war doch anspruchsvoller als er es sich eingestehen wollte, jetzt, wo er sich wieder an den alltäglichen Luxus gewöhnt hatte.

Er hatte seinen Schlafanzug unordentlich über einen der Stühle geworfen, weil er wusste, dass sich die Hausmädchen ohnehin um die Ordnung kümmern würden. Auf dem Nachttisch lag der Roman, den er gestern angefangen hatte. »Der Marsianer« – Melody hatte ihn mir empfohlen, aber ich selbst war noch nicht dazu gekommen, das Buch anzufangen. Mir kreisten immer viel zu viele Gedanken im Kopf, um mich auf eine Geschichte zu konzentrieren. Und lieber als selbst zu lesen, sah ich Luke beim Lesen zu.

»Guten Morgen.«

Wenn man vom Teufel sprach.

Luke stand in der Tür, nur mit einem Handtuch bekleidet. Und damit trocknete er sich gerade das Haar. Mein Blick huschte einen Moment über seinen Körper, der inzwischen weniger kantig war. So konnte ich ihn auch ewig ansehen, jeden Millimeter seines Körpers in mich aufsaugen.

Ich räusperte mich und wandte den Blick ab. »Du bist früh auf.«

»Ich konnte nicht mehr schlafen. Und ich hatte gehofft, dich mit dem Frühstück zu überraschen. Aber dann war das Duschen doch zu schön.« Neckisch streckte er mir die Zunge heraus. »Aber vielleicht, wo ich schon einmal nackt bin …«

Er beendete den Satz nicht, aber ich wusste, worauf er hinaus wollte. Hitze kroch mir in die Wangen. »Ich … ich weiß nicht.« Die letzten zwei Monate, seit wir zusammen waren, hatten wir ein paar Mal Sex gehabt und es war jedes Mal echt schön gewesen. Aber so spontan wie für ihn ging es für mich nicht. Ich brauchte den langsamen Anlauf, die passende, romantische Stimmung, damit es für mich knisterte. Jedes Mal, wenn ich ihn zurückwies, hatte ich die Angst, dass ich ihm zu schwierig, zu anstrengend wurde. »Du musst doch gleich zur Arbeit«, versuchte ich mich zu retten.

»Schon gut. Ich dachte nur …«, flüsterte er, machte einen Schritt auf mich zu und strich mir über die Wange. »Wir sind zusammen, das ist das Wichtigste.«

»Tut mir leid.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich müsste es. Ich bin wohl doch nicht so lernfähig, wie ich dachte« Er hob die Schultern. »Es fällt mir noch so schwer zu glauben, dass du mehr von mir willst, als …« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin glücklich, so wie es zwischen uns läuft.«

Ich nickte und versuchte, ihm zu glauben.

* * *

Ohne wirklichen Enthusiasmus schaufelte ich den gemischten Salat in mich hinein. Den Vormittag hatte ich mit Gesangsunterricht verbracht und ich war froh, die Mittagspause mit Jaden und Miles zu verbringen. Nur würde ich viel lieber jetzt wie sie einen Burger essen. Das saftige Rindfleisch konnte ich fast schmecken und Wasser lief mir im Mund zusammen. Ich seufzte.

Miles sah von seinem Burger auf. »Ist alles in Ordnung?«

»Ich könnte eine halbe Kuh essen. Roh.«

Er lachte. »Aber das ist nicht alles, oder?«

Ich biss mir auf die Unterlippe, senkte den Blick und stocherte ein bisschen lustlos im Salat. »Ich habe Angst, Luke zu verlieren, weil ich …« Hilflos zuckte ich mit den Achseln. »Wir haben unterschiedliche Bedürfnisse, und ich fürchte, irgendwann bin ich ihm nicht mehr genug, und er …« Tränen schossen mir in die Augen. Peinlich berührt rieb ich mir über die Augen. »Sorry, seit ich die neuen Medikamente nehme, bin ich furchtbar nah am Wasser gebaut.« Ich zog die Nase hoch. »Er sagt, dass er mit mir glücklich ist, solange wir einfach zusammen sind. Aber wie lange ist man glücklich, wenn man andauernd sexuell frustriert ist?«

Miles und Jaden tauschten eine hilflosen Blick aus, sagten aber nichts.

»Ich meine, es ist doch sicher wichtig, wenn man da auch auf einer Wellenlänge liegt, damit es auf Dauer funktioniert.« Ich raufte mir die Haare. Für sie war das sicher schwer zu verstehen, wo sie doch … normal waren. Ich schnaubte. »Also hat keiner von euch einen guten Rat?«

Jaden räusperte sich. »Nur den einen: Wenn Luke dir sagt, dass er glücklich ist, dann glaube ihm einfach. Momentan scheint es für ihn ja kein Problem darzustellen. Und wenn sich das ändert, könnt ihr euch dann damit auseinandersetzen. Genieß das Glück, das ihr jetzt habt.«

Ich rollte mit den Augen. »Ja, ja, Carpe Diem, und das ganze Blabla.«

»Exakt«, fuhr Jaden fort. »Ihr liebt euch. Und solange, wie ihr das tut, werdet ihr eine Lösung für jedes Problem finden, das sich auftut. Sobald es sich auftut.«

Ich nickte, erinnerte mich an die winzigen Momente, in denen die Enttäuschung in Lukes Blick aufflackerte, wenn ich ihn abblitzen ließ. Gleich, wie sehr ich ihn liebte, ich kam da nicht aus meiner Haut.

Miles griff über den Tisch, strich mir über den Oberarm. »Wenn es dich nicht loslässt, dann rede mit ihm. Wenn du deine Sorgen mit ihm teilst, könnt ihr euch vielleicht einen Schlachtplan zurecht legen. Wenn du sie für dich behältst, fressen sie sich in dich hinein und vergiften jeden gemeinsamen Moment.«

Warum musste die Lösung jedes Problems darin liegen, zu reden? Etwas was so einfach, aber auch so schwierig war.

* * *

Ich saß am Esstisch, nippte an meinem inzwischen kalten Kamillentee und wartete darauf, dass Luke von seiner Schicht nach Hause kam. Gleich wie schwer es mir fiel, wäre es das Beste, das Thema jetzt anzusprechen, bevor ich es zu lange mit mir herumschleppte.

Luke schloss die Tür auf – es war immer noch komisch, zu hören, wie jemand anderes es tat. »Bin wieder zu Hause!«, rief er und stand kurze Zeit später im Türrahmen. »Ist etwas passiert? Du siehst aus, als wäre jemand gestorben.« Er kräuselte die Stirn. »Vor einer halben Stunde ging es Melody noch bestens, also kann es das nicht sein.«

»Ist es auch nicht. Niemand ist gestorben.«

Er setzte sich mir gegenüber. »Haben sich deine Eltern zu einem Besuch angekündigt?«

Ich schüttelte den Kopf.

Er schluckte. »Meine?«

Ihrer großen Sorge zum Trotz hatten sie es bisher noch nicht geschafft, nach New York zu kommen. Sie hatten ein langes Gespräch mit Luke über Skype geführt, das furchtbar schwerfällig und gezwungen abgelaufen war. Vielleicht hatten sie vor einem Wiedersehen genauso große Angst wie Luke. Ich schüttelte den Kopf. »Wir müssen reden.«

Luke wurde blass. »Machst … machst du Schluss mit mir?«

»Was? Nein.« Meine Sorge war eher, dass er das tat. »Wie kommst du darauf?«

»Weil du so ernst aussiehst und man nie gute Gespräche mit ›Wir müssen reden‹ einleitet.«

»Es geht um heute morgen. Und gestern morgen. Und vorgestern Nacht.«

Sichtlich verwirrt zog Luke die Augenbrauen zusammen. »Was war denn da?«

»Na ja, du wolltest, und ich wollte nicht, und … ist das kein Problem für dich?«

Luke seufzte. »Das Thema hatten wir doch schon so oft. Es macht mir nichts aus. Das weißt du. Oder … ist mein Verhalten für dich ein Problem?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, denn dein Verhalten ist ja völlig normal. Gerade am Anfang einer Beziehung.«

»Al, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht unnormal bist. Du hast andere Bedürfnisse, das ist alles.«

»Aber das ist doch das Problem«, sprudelte es aus mir heraus. »Jetzt macht es dir nichts aus, dass ich immer wieder abblocke und dich hinhalte. Aber die Sache ist doch: Du hast gerne Sex, ich nicht. Nun, ich hab ihn schon gerne, wenn ich denn mal Lust darauf habe. Aber das ist einfach nicht sonderlich oft. Weil ich Zeit brauche und die richtige Stimmung und … Da gibt es keinen Schalter, den ich einfach umlegen kann. Ich liebe dich, aber ich habe Angst, dass dir das irgendwann nicht mehr genug ist. Weil ich nicht jeden Tag mit dir schlafen will. Und ich weiß doch … Du hast ja mal gesagt, dass …«

Ernst sah Luke mich an, griff über den Tisch nach meiner Hand und verschränkte seine Finger mit meinen. »Ja, Sex macht mir Spaß. Und ich hatte in den letzten Monaten, unglaublich viel guten und schlechten Sex. Aber es war nie etwas, was mehr als ein körperliches Bedürfnis für mich war. Um ein körperliches Bedürfnis zu stillen, reicht mir auch meine rechte Hand. Was du mir gibst, ist so viel wertvoller. Wenn wir zusammen sind, berührt es mein Herz und ist mehr als nur ein belangloser Fick.« Seine Wangen färbten sich rot und er rieb sich über den Nacken. »Das hört sich jetzt verdammt kitschig an, was?«

»Ein bisschen, ja.« Ich kaute auf der Unterlippe. »Dann ist es wirklich okay für dich, wenn ich mich so … ziere?«

»Das belastet dich sehr, was?«

Zögerlich nickte ich. »Ich hatte noch nie eine Beziehung, und ich habe einfach Angst, es dadurch kaputt zu machen, nicht genug zu sein.«

Luke senkte den Blick. »Diese Angst hab ich doch auch. Ich hatte vielleicht unglaublich viel Sex in meinem Leben, aber nie eine emotionale Bindung, die mir wirklich etwas bedeutete. Und immer, wenn ich dich so überrenne, habe ich Angst, dass du es irgendwann leid bist, dass ich einfach nicht dazulerne. Dass ich dich zu sehr bedränge und du genug von mir hast.«

»Dann belastet das Ganze dich auch?«

Er nickte. »Dabei fühle ich mich jeden Moment mit dir so unglaublich wohl. Und es ist ja auch nicht so, als würdest du mich auf Distanz halten.« Er lächelte schief. »Ich genieße es sehr, abends mit dir auf der Couch zu kuscheln, neben dir einzuschlafen und wieder neben dir aufzuwachen.«

»Vielleicht ist es doch ganz einfach und Jaden hat recht«, murmelte ich. »Vielleicht sollten wir uns weniger Sorgen machen und einfach das Glück genießen, was wir haben.«

»Ein guter Plan.«

»Den wir ab sofort umsetzen?«

Luke lächelte, lehnte sich über den Tisch und stahl sich einen Kuss. »Ab sofort. Genau.«

Der Knoten in meinem Magen löste sich langsam, und ich fühlte mich leichter. Ich war es leid, Probleme dort zu sehen, wo keine waren. »Wie war dein Tag?«

Er streckte sich und gähnte herzhaft. »Anstrengend, aber schön. Melody und ich haben wieder Pläne für dich ausgeheckt.«

»Pläne? Weiht ihr mich da irgendwann auch ein?«

»Nun … Das wollte ich die Tage ohnehin tun.« Er biss sich auf die Unterlippe, lächelte schüchtern und legte den Kopf zur Seite. »Es ist uns nicht entgangen, dass du deine neuen Ziele nach anfänglicher Begeisterung nur sehr halbherzig verfolgst.«

»Ja, das ist ja auch nicht zu übersehen«, erwiderte ich verdrießlich. Wir hatten gerade erst unsere Probleme gelöst – konnten wir nicht einfach so tun, als hätten wir gar keine? »Und habt ihr da eine Lösung gefunden?«

Luke stand auf, holte seinen Rucksack und kramte darin. »Keine wirkliche Lösung, aber eine Idee.« Er zog einen Flyer heraus. »Wir wissen, dass du gerne wieder an die Juilliard gehen würdest, aber vielleicht ist das Gesangsprogramm dort nicht ganz das richtige für dich.« Er schob mir den Flyer zu.

Mein Herzschlag begann zu rasen, wie in dem Moment, als ich das Plakat für das Vorsingen entdeckt hatte. »Die American Musical Theatre Academy?«, fragte ich ihn mit belegter Stimme.

»Sie nehmen noch Anmeldungen für dieses Jahr an. Es gibt einen einjährigen Vorbereitungskurs, den du im Herbst beginnen könntest, wenn sie deine Bewerbung akzeptieren. Du kannst dich dann immer noch im Winter für die Juilliard bewerben und dort studieren, falls du feststellst, dass es nichts für dich ist. Oder du machst auf der AMTA mit ihrem Fortgeschrittenen-Kurs weiter. Dann könntest du in zwei Jahren schon auf dem Broadway spielen!«

Auf dem Brodway … Ich schüttelte den Kopf. »Das ist doch verrückt.«

»Aber wolltest du das nicht? Ein paar verrückte Dinge tun?«

Mein wildes Herzklopfen bestätigte mir, dass es genau die richtige Art von verrückt war. Meine Mundwinkel ruckten nach oben. »Du hast recht. Genau das wollte ich.« Ich sprang auf, zog ihn in meine Arme. »Jetzt muss ich wohl fleißig ›Evermore‹ üben.«

»Genau. Damit nicht nur ich, sondern die ganze Welt dir zu Füßen liegt.«

Es war ein seltsames Gefühl. Ich hatte noch nichts gewonnen, noch nichts erreicht. Aber allein bei dem Gedanken, es zu versuchen, fühlte ich mich, als wären meine gebrochenen Flügel verheilt und ich könnte endlich wieder fliegen.

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