Wintertraum

Seit er sich erinnern konnte, überkam Nikolaj im Archiv des Hauptquartiers eine uncharakteristische Nervosität, die sich mit jedem Augenblick in dem staubigen, erdrückenden Bunker ins Unermessliche steigerte.

Heute war jedoch nicht Herr Huberts strenger Blick über den schwarzen Rand seiner Hornbrille hinweg dafür verantwortlich, dass Nikolaj feuchte Hände und zitternde Knie bekam.

Heute lag es an einem jungen Mann mit haselnussbraunen Augen, lockigem Haar und einem unverschämt charmanten Lächeln, der ihm gerade erklärt hatte, dass er Noel Winter hieß und nach Herrn Huberts unerwarteter Kündigung alsbald dessen Stelle übernommen hatte.

»Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte er höflich, aber in seinen Augen lag ein belustigtes Funkeln.

»Äh, Ähm.« Nikolaj rieb sich über den Nacken, der zu glühen schien. Es verwunderte ihn, dass sein Schweiß nicht gleich verdampfte. »Ich bringe ein paar Zeitungsartikel und Berichte zu unserem letzten Fall, dem …« Linkisch zog Nikolaj das oberste Blatt im Ordner hervor. »Dem Banshee-Mord.«

Für einen flüchtigen Moment berührte Noels Hand Nikolajs, als er ihm die Papiere abnahm. »Vielen Dank. Sonst noch etwas?«

Nikolajs einzige Gedanken drehten sich um das prickelnde Kribbeln an der Stelle, wo sich ihre Hände berührt hatten. Er schüttelte stumm den Kopf, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort.

Hinter ihm lachte Noel. »Dann bis zum nächsten Mal!«, rief er ihm nach, wobei die letzten Worte vom Zuschlagen der Archivtür fast übertönt wurden.

Nikolaj schluckte den Speichel herab, der sich in seinem Mund angesammelt hatte. Ungewöhnlich viel Speichel, so als hätte er gerade voller Vorfreude ein schmackhaftes Festtagsmenü betrachtet.

Und in gewisser Weise hatte er das ja auch. Noel Winter war der hübscheste junge Mann, den Nikolaj in den 19 Jahren seines bisherigen Lebens gesehen hatte.

* * *

»Ich glaube, ich bin verliebt.« Kleinlaut saß Nikolaj auf Emilias Bett und zeichnete mit der Schuhspitze zusammenhangslose Formen in den grauen Teppichboden. 

Milde lächelte Emilia ihn an. Etwas Mütterliches lag in ihrem Blick, dass nicht zu ihrem mädchenhaften Gesicht passen wollte. Sie nahm seine Hand und drückte sie. »Glaubst du das, oder weißt du es nicht eher?«

Das war eine sehr gute Frage.

Seit der ersten Begegnung mit Noel waren zwei Wochen vergangen. Sie hatten sich noch ein paar Mal im Archiv gesehen, aber weitaus öfter in der Kantine, nie jedoch mehr als ein paar Floskeln und höfliche Grüße ausgetauscht.

Trotzdem wusste Nikolaj inzwischen sehr viel über Noel – heimlich hatte er in Eriks Büro einen Blick in die Personalakte geworfen.

Noel war vier Jahre älter, schon 23 und damit ein richtiger Erwachsener. Nicht so ein Grünschnabel wie Nikolaj, der, wenn er ehrlich war, nur so tat, als blickte er bei allem durch. Gerade erst hatte Nikolaj seine inoffizielle Ausbildung zum Dämonenjäger angefangen und noch nichts von der Welt gesehen, was weit über das Ruhrgebiet hinausging.

Noel dagegen war mit seiner Mutter, einer hochgestellten weißen Hexe, seit seiner frühesten Jugend um die Welt gereist, hatte in Paris, London, Moskau gelebt. Er hatte kein normales Leben geführt, genauso wenig wie Nikolaj, aber Noel hatte ein Leben geführt. Voller Abenteuer und fremder Welten, von denen Nikolaj nur träumen konnte.

Aber wenigstens etwas hatten sie gemeinsam: Sie waren beide keine »richtigen« Menschen. Wobei Nikolaj mit seinem Dämonenvater das weitaus härtere Los gezogen hatte.

Diese Informationen waren allerdings nur Puzzleteile. Erst zusammengesetzt und ergänzt durch Noels sanfte Stimme, das neckische Lächeln, welches seine Lippen nie verließ, und durch die Eleganz, die in jeder seiner Bewegungen lag, ergaben sie ein perfektes Ganzes, das Nikolaj in seinen Bann geschlagen hatte.

»Ich bin verliebt«, murmelte er, »Was mach ich jetzt?«

Emilia hatte fast sechshundert Jahre gelebt – irgendeinen Rat würde sie wissen. »Für den Anfang wäre es keine schlechte Idee, wenn du überhaupt mal Zeit mit ihm verbringst. Wie oft habt ihr denn miteinander geredet? Außerhalb der Arbeit?«

Nikolaj starrte auf seine Hände, zuckte mit den Achseln. »Er hat mich schon so drei, viermal gegrüßt. In den Gängen.«

Emilia kicherte. »Ich glaube nicht, dass das als Gespräch zählt.«

»Aber ich werde nervös, wenn ich in seiner Nähe bin. Selbst wenn ich ihn nur für die Arbeit sehe. Und du weißt, dass ich kein Verfechter von Small Talk bin.«

»Nein, das bist du nicht. Es wird allerdings nichts passieren, wenn du nicht mit ihm redest. Gelegenheiten muss man beim Schopfe packen – sonst ziehen sie ungenutzt an einem vorüber. Und man bereut es den Rest seines Lebens. Willst du das?«

Nikolaj dachte an Noels Lächeln. »Nein.«

* * *

»Willkommen zurück in meinem Reich«, begrüßte Noel ihn am nächsten Abend, als Nikolaj unter einem Vorwand wieder hinab ins Archiv gestiegen war. »Womit kann ich dir heute helfen? Das Du ist doch okay, oder?«

»Kl-klar.«

»Sehr schön.« Noel lächelte breit, was auf seinen geschwungenen Lippen unverschämt sexy aussah. 

Könnte Nikolaj ihn einfach nur die ganze Zeit so ansehen, wäre er schon zufrieden. Das war jedoch nichts, was er Noel auf die Nase binden wollte. Er wollte ja nicht mit der Tür ins Haus fallen. Außerdem hatte er sich einen Plan zurechtgelegt.

»Ich mache ja gerade meine Ausbildung« Er scharrte mit den Füßen. »Da würde ich gerne mein Wissen über verschiedene Monster noch etwas vertiefen. Damit ich der Arbeit besser gewappnet bin.«

»Und ich soll dir helfen, die richtigen Bücher zu finden?«

Nikolaj nickte, wippte auf den Füßen auf und ab, ging dann um Noels Schreibtisch und lehnte sich ganz gewagt dagegen. »Das wäre eine große Hilfe.«

Noel lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und blickte zu Nikolaj auf. Verdammt, hatte er lange, dichte Wimpern. »Wir hatten noch nicht wirklich Gelegenheit, uns zu unterhalten und besser kennenzulernen.«

Nikolaj verstand nicht, wie Noel darauf kam, das jetzt anzusprechen, aber für den Moment war ihm das schnuppe. Immerhin lief es besser, als gedacht.

Bis auf die Tatsache, dass er in Schweiß ausbrach. Er räusperte sich. »Ja, das stimmt.«

»Komisch eigentlich, wo hier doch gar nicht mehr so viele Leute arbeiten.«

Worauf spielte er an?

Dass ihr Personal ausgedünnt war, war nicht abzustreiten. Nur noch ein gutes Dutzend Ermittler waren fest eingestellt, von denen rund die Hälfte in den bereitgestellten Apartments lebte. Noel hatte ebenfalls ein Zimmer hier bezogen, sodass sie tatsächlich reichlich Gelegenheit gehabt hätten, sich über den Weg zu laufen. Und sie sahen sich ja auch täglich, obwohl sie bisher dabei kaum ein Wort gewechselt hatten.

War das etwa ein Vorwurf, dass Nikolaj zu distanziert gewesen war? Fand Noel ihn absonderlich und eigenbrötlerisch?

Nikolaj schluckte schwer und rieb sich über den feuchten Nacken. »Äh …«

»Deswegen denke ich«, rettete Noel ihn aus der Bredouille, »wäre es schön, wenn wir mehr Zeit miteinander verbringen und uns besser kennenlernen würden. Schließlich werden wir vermutlich noch ein paar Jährchen zusammenarbeiten und da hilft es doch nur, wenn man sich gut versteht.«

»J-ja genau«, brachte er stotternd hervor. Jetzt war er wieder sprachlos. Es wäre einfacher gewesen, hätte er Noel die Liste mit den Monstern gegeben, dieser ihm die Bücher herausgesucht und sie beide dann stumm nebeneinander gearbeitet, bis Nikolaj den Mut aufbrachte, ein Gespräch anzufangen.

Doch natürlich lief nichts nach Plan.

So würde er sich allerdings nicht davor drücken können, wirklich mit Noel zu reden.

Noel lächelte immer noch so unbefangen, als wäre ihm Nikolajs Unsicherheit nicht bewusst. Oder gleichgültig. »Ich hab schon einiges von dir gehört.«

»Hast du das?«, platzte Nikolaj hervor, plötzlich erschrocken. Hoffentlich hatte man ihm nicht nur Schlechtes erzählt. Nikolaj wusste, dass die Klatschbasen sich sicher über ihn das Maul zerrissen, wie sie es über jeden taten, der ihnen den Rücken zudrehte. Aber er hatte nie nachgeforscht, was sie über ihn erzählten. Wobei er schon eine Idee hatte.

»Ich hab einiges über deine Eltern gehört, hauptsächlich deinen Vater. Und dass du schon seit deiner Kindheit hier lebst.« Er zögerte einen Moment. »Das tut mir leid mit deiner Mutter.«

Nikolaj schüttelte sich. Das war ein Thema, über das er nicht reden konnte. »Ich erinnere mich eigentlich gar nicht mehr an sie«, wehrte er ab.

»Macht es das besser?« Noel legte den Kopf schief, sah ihn kurz traurig an, bevor er das Gespräch in eine andere Richtung lenkte: »Ich weiß natürlich nicht, was man sich über mich erzählt.«

»Gar nichts«, sagte er etwa zu schnell. Aber man erzählte sich wirklich nicht viel, außer dass Noel sehr höflich und immer freundlich war. Nichts, woraus man ihm einen Strick drehen konnte.

»Mein Vater ist auch schon gestorben, als ich noch ein kleiner Junge war. Ich erinnere mich nicht sehr an ihn. Danach hat meine Mutter mich großgezogen – als weiße Hexe war das nicht gerade ihre Stärke. Gleich, was man so von ihnen erzählt, besonders mütterlich sind sie ja nicht.« Er lachte leise. »Sie sagt, ich sei wie mein Vater. Was sie da genau meint, da schweigt sie sich aus.« Er zuckte mit den Achseln, musterte dann Nikolaj neugierig. »Hast du viel von deinem Vater geerbt? Oder eher von deiner Mutter?«

Nikolaj wand sich unter Noels Blick. »Von meinem Vater? Nicht allzu viel. Zumindest das ich wüsste.« Das war gelogen, aber er wollte Noel nicht gleich verschrecken. Betrübt senkte er den Blick auf seine Schuhspitzen. »Bei meiner Mutter, wie gesagt, weiß ich es nicht. Erik kannte sie nicht, war nur durch Zufall auf uns gestoßen, weil er den Vampir verfolgte, der …« Er winkte ab. »Ich weiß nur ihren Namen.« Abwesend kaute er auf der Unterlippe, seine Kehle schien sich zusammenzuziehen. Er bevorzugte es, nicht darüber nachzudenken, dass er seine Wurzeln nicht kannte. Zumindest den Teil der Wurzeln, den er nicht hasste.

»Vielleicht sollten wir das Thema wechseln«, warf Noel da ein, »das ist nicht gerade fröhlicher Small Talk, den wir führen. Der liegt mir zwar eigentlich auch gar nicht, doch für ein erstes Gespräch ist das vielleicht ein bisschen zu harter Tobak.«

»Aber Small Talk ist auch nicht meins.«

Noel lächelte. »Das hab ich mir fast gedacht. Ich finde allerdings, wir sollten erst mal mit leichteren Themen fortfahren. Wie findest du das Wetter heute?«

* * *

Sie hatten nicht lange über das Wetter gesprochen. Schnell waren sie zu anderen Themen übergeschwenkt – Noel hatte von seinen Reisen erzählt, wobei Nikolaj ihm mit großen Augen an den Lippen klebte.

»Kommst du hier oft raus?«, fragte Noel, nachdem er eine Anekdote vom Winter in Moskau und ausgebüxten Pinguinen beendet hatte.

»Das Weiteste war ein Ausflug ins Landschulheim nach Münster.«

Schlagartig flackerte eine Erinnerung auf. Eine betrunkene Nacht, Flaschendrehen und Thomas‘ raue Lippen.

Der Moment, in dem ihm klar wurde, dass er anders war.

»Du wirst ja ganz rot. Was ist?«

»Nichts«, krächzte er und rieb sich über den Nacken. »Es … es ist mir nur peinlich, noch nichts von der Welt gesehen zu haben.«

»Das muss es doch nicht.«

Gerettet.

»So hast du zumindest ein Zuhause gehabt und Freunde finden können.«

Nikolaj schwieg einen Moment. »Ich habe keine Freunde.« Es fiel ihm immer unheimlich schwer, sich das einzugestehen, doch Noel gegenüber ging es ihm einfach von den Lippen. »Es war nicht so leicht, hier aufzuwachsen.«

»Ich schätze, du hast selten Klassenkameraden mit nach Hause gebracht.«

»Eigentlich nie. Deswegen hat mich auch nie jemand zu sich eingeladen. Außer einmal in der Grundschule Alexandra, deren Eltern wohlhabend waren, und die immer die ganze Klasse zu ihrem Geburtstag eingeladen hat. Bis auf mich, nachdem ich mich beim ersten Mal nicht so umgänglich gezeigt hatte.« Müde lächelte er. »Ich war wohl ein bisschen düster und wortkarg, habe den anderen Kindern Angst gemacht. Aber schließlich …« Er brach ab und schüttelte den Kopf. Er musste Noel nicht damit belasten. Mit den letzten Erinnerungen, die er an seine Mutter hatte und dem, was mit ihr geschehen war. »Im Hauptquartier selbst, wie du sicher schon bemerkt hast, gibt es auch nicht viele Kinder.«

»Bei dieser Arbeit ist es auch nicht wirklich naheliegend, sie mitzubringen. Und so schön die Apartments sind, sind sie doch nicht gerade familientauglich.«

»Nein, das sicher nicht.« Sie schwiegen einen langen Moment. »Ich beneide dich um dein Leben. Was du alles schon erlebt hast.«

»Das brauchst du wahrlich nicht.« Noel legte den Kopf in den Nacken, blickte in eine unbestimmte Ferne. »Ich hab vielleicht viel gesehen, viele Leute getroffen, aber wahre Freunde habe ich genauso wenig. Ich habe gelernt, charmant und höflich zu sein, schnell Kontakte zu knüpfen. Aber tiefe Bindungen, wo ich mich jemandem wirklich öffnen konnte? So etwas findet man nicht, wenn man nie länger als ein paar Wochen an einem Ort ist.

Nikolaj fragte sich, warum es Noel dann bei ihm so leicht fiel, aber seine Zunge war bleiern und er traute sich nicht, es auszusprechen. Gleich, wie viele andere Dinge er Noel erzählte, die eigentlich eine tiefere Freundschaft voraussetzten. Oder zumindest glaubte Nikolaj das – schließlich kannte er normal gewachsene Freundschaften nur aus Film, Fernsehen und Büchern. All die Leute, die er großzügig zu seinen Vertrauten zählte – nicht mehr als eine Handvoll – hatten ihn quasi aufgezogen und waren mehr Familie als Freunde. Und selbst mit manchen von ihnen fiel es Nikolaj schwer, so zu reden, wie er es gerade mit Noel tat.

Vielleicht verstanden sie auch instinktiv, wie ähnlich sie sich waren.

Sie brachen ihr Gespräch schließlich ab, als Thilda leicht zerstreut und mit vielen Fragen ins Archiv kam.

Diesmal fiel es Nikolaj leichter, sich zu verabschieden. Erst später bemerkte er, dass er gegangen war, ohne ein einziges Buch ausgeliehen oder auch nur in einem geblättert zu haben. Ein guter Grund, am nächsten Tag wiederzukommen.

* * *

Er kam nicht nur am nächsten Tag wieder, sondern jeden Tag der kommenden Woche. Inzwischen stand eine zweite Tasse auf dem Schreibtisch und Noel schenkte ihm Tee aus. Eigentlich trank Nikolaj ungerne Tee, aber wenn er von Noel kam, machte er eine Ausnahme, und plötzlich schmeckte ihm der Minztee, bei dem er früher angewidert das Gesicht verzogen hatte, als wäre er süßer Nektar. Versonnen hielt er sich die dampfende Tasse unter die Nase und roch mit geschlossenen Augen kurz daran. Minze würde wohl der Geruch bleiben, den er immer mit Noel verband.

Nikolaj saß jetzt auf einem zweiten Stuhl, Noel gegenüber, hatte einen Hefter mit Kopien vor sich ausgebreitet, um wenigstens so zu tun, als wäre er zum Lernen hier. Erik sollte nicht negativ auffallen, dass er im Moment nur halbherzig bei der Arbeit war. Aber er hatte nun einmal eine Beschäftigung gefunden, die viel befriedigender war, als jeder Kriminalfall.

Noels Profil zu betrachten, während er durch das Archiv wuselte, oder seine langen Wimpern, während er vorgebeugt über Akten hing, die einsortiert werden mussten, war einfach zu fesselnd, als dass er sich lange davon hätte losreißen können.

Wobei ihm die Zeit, die sie gemeinsam Pause machten, noch am besten gefiel. Er sehnte es herbei, dass der Zeiger der Uhr auf eins stehen blieb, und sie sich für eine Stunde ganz ohne schlechtes Gewissen oder Unterbrechungen unterhalten konnten.

Gähnend blickte Noel vom Aktenberg auf und schob ihn beiseite. »An diese nächtlichen Arbeitszeiten muss ich mich noch gewöhnen.« Er streckte sich. »Erik hat mir zwar angeboten, tagsüber zu arbeiten, aber was wäre ich für ein schlechter Archivar, wenn ich nie da wäre, wenn ihr mich braucht.«

»Früher hatten wir dafür drei Archivare, die in Schichten arbeiteten.«

»Ja, aber dann wäre die Nachtschicht immer noch die, in der du mich besuchen kommst, oder?«

Hitze kroch Nikolaj in den Nacken und er verschluckte sich an seinem Tee. »Ich … ich weiß nicht, ich brauch eigentlich nicht so viel Schlaf und …«

Noel lachte. »Du bist süß, wenn du verunsichert bist.«

Darauf wusste Nikolaj nichts zu erwidern.

Für einen Moment schwiegen sie.

»Wie verbringst du eigentlich die Weihnachtstage?«, warf Noel da ein.

War das eine Einladung, die Tage mit ihm zu verbringen? »Äh.«

»In meiner Familie wurden sie nicht wirklich gefeiert – Hexen legen keinen großen Wert darauf und Mutter hatte auch keine Familie mehr, die sich da hätte versammeln können. Obwohl ich natürlich trotzdem Geschenke bekam. Ich frag mich, wie das wohl bei dir immer ablief.«

Oh, doch keine Einladung. Nikolaj spürte, wie sich die Enttäuschung in seinem Magen zusammenzog. »Also, ich erinnere mich nicht daran, wie es war, als ich noch bei … bei meinen Eltern war, kann mir aber irgendwie nicht vorstellen, dass ein Dämon großen Wert auf Weihnachten gelegt hat.« Er wusste nichts von seiner Mutter, er wusste auch nicht, welche Rolle sein Vater damals in der Familie gespielt hatte. War er viel da gewesen? War er überhaupt da gewesen? Verlegen zuckte er mit den Achseln. »Und hier, ich mein, die anderen haben schon ihr Bestes gegeben, dass ich eine normale Kindheit hatte. So gut, wie es an einem Ort wie diesem nun mal geht. Oben in der Kantine stand immer ein Weihnachtsbaum und zu Weihnachten gab es große Bescherung. Aber weniger, weil Weihnachten war, sondern mehr, weil ich Heiligabend Geburtstag habe.«

Noel lachte. »Hast du das? Was für eine wichtige Information.«

Nikolaj war sich nicht sicher, wie ernst gemeint der Kommentar war und fuhr mit schalkhaftem Ton fort. »Und zu allem Überfluss hab ich auch noch Nikolaus Namenstag. Mich im Dezember mit Geschenken und Süßigkeiten zu überhäufen, war immer ein teures Unterfangen für alle. Wahrscheinlich zelebrieren wir es deswegen kaum noch, seit ich älter geworden bin. Im Grunde ist Weihnachten doch mehr eine große Inszenierung für die Kinder. Inzwischen feiern wir nur noch meinen Geburtstag in kleinem Rahmen. Den Weihnachtsbaum gibt es zwar noch, die Kantine wird dekoriert und Thilda macht dann ein großes Festtagsessen, aber ansonsten ist es wie jeder andere Tag. Es ist ja nicht so, als könnten wir einfach freinehmen.«

»Das Verbrechen schläft nie.« Noel lachte in sich hinein, nickte, wobei er leicht abwesend wirkte. »Ich weiß noch nicht, wie ich dieses Jahr feiere. Vielleicht kommt meine Mutter vorbei. Vielleicht schließe ich mich auch einfach dem Festtagsessen an. Deinen Geburtstag würde ich ja nur ungerne verpassen.« Er lächelte breit, und Nikolaj spürte, wie er wieder rot wurde.

»Das würde mir gefallen.«

Ganz unvermittelt griff Noel nach Nikolajs Hand, strich mit dem Daumen über den Handrücken. »Das hab ich mir schon irgendwie gedacht.«

Erschrocken zog Nikolaj die Hand weg, stolperte nach hinten. »Ich muss dann jetzt … Erik wollte noch …«

* * *

Flirtete Noel mit ihm? Die Frage ging Nikolaj nicht aus dem Kopf, aber eine Antwort darauf fand er auch nicht. Er war nicht gut darin, die Gefühle von Menschen zu lesen – zumindest nicht, wenn sie sich gegen ihn richteten und nicht negativ waren. Darin, unterdrückte Wut und Hass zu erkennen, war er inzwischen sehr gut geworden. Das war für seine Arbeit auch wichtiger, als zu merken, wenn man gemocht wurde.

Er wälzte sich in seinem Bett hin und her. Noch immer bekam er Herzklopfen, wenn er bei Noel war – das war nicht besser geworden, eher schlechter. Und je mehr sie sich unterhielten, umso stärker fühlte Nikolaj diese Verbundenheit zwischen ihnen. Er war sich inzwischen ganz sicher, dass er in ihn verliebt war. Er wusste nur nicht, wie er Noels Verhalten deuten sollte – er hatte zu wenig Erfahrung mit Freundschaft zwischen Männern, als dass er das einschätzen könnte. Oder Erfahrung allgemein, die darüber hinausging, überhaupt erkannt zu haben, dass er mehr auf Männer als Frauen stand.

Er seufzte, rieb sich über das Gesicht und setzte sich auf. Er war so unglaublich unerfahren für seine 19 Jahre, dass es ihm unangenehm war, darüber nachzudenken. Seine Erfahrungen beschränkten sich auf einen nassen, unbeholfenen Kuss beim Flaschendrehen, begleitet von verschämten Gekicher. Nichts, womit er sich brüsten konnte – und das auch der Tatsache geschuldet, dass er bisher Gelegenheiten nie beim Schopfe gepackt hatte. Das musste diesmal anders sein. Er musste den Mut finden, den ersten Schritt zu wagen.

Wenn das nur so einfach wäre.

* * *

Die Adventszeit war angebrochen, und Nikolaj hatte noch immer nicht den Mut gefunden.

Vielleicht war es jetzt zu spät.

Erik hatte Nikolaj zu einem Botengang durch die Stadt geschickt. Irgendwelche Akten sollte er Spiekermann vorbeibringen. Nikolaj hasste es, als Laufbursche benutzt zu werden. Doch dank diesem kleinen Ausflug stand er jetzt vor einem kleinen, heimeligen Café, wo er sich mit Spiekermann treffen sollte.

Er ging nicht rein, denn drinnen saß Noel, lachend und schäkernd mit einer bildhübschen Frau, die vielleicht Ende zwanzig war. Ein wilder Lockenkopf, feine Züge, volle Lippen.

Sie wirkten vertraut, zu vertraut und der Anblick versetzte Nikolaj einen Stich in der Brust. Die Akte, die er festhielt, zerknitterte in seinen Händen.

»Was stehst du hier draußen rum?«

Nikolaj zuckte zusammen und blickte über die Schulter zurück. Spiekermann war angekommen, trug einen schwarzen schweren Mantel. Auf seinen Schultern schmolz der erste Schnee. 

»Hier, die Akte.« Nikolaj schlug sie ihm fast gegen die Brust. »Ich hab keine Zeit.« Er stürzte an Spiekermann vorbei, ignorierte dabei den verdutzten Ausdruck in seinem Gesicht und eilte die Straße entlang.

Hatte Nikolaj zu lange gewartet? War er zu zögerlich gewesen?

Er verschwand in einer Seitengasse und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand.

Was hatte das zu bedeuten? War sie Noels Freundin? Nur ein Date? Hatte Nikolaj bei dem, was er zwischen sich und Noel gespürt hatte, so falsch gelegen? Was sollte er jetzt tun?

Vielleicht war sie nur eine gute Freundin. Vielleicht seine Schwester – nein, er hatte keine Geschwister. Auch keine Cousinen.

Ja, sicher war Nikolaj zu zögerlich gewesen. Er musste etwas unternehmen. Jetzt, wenn er noch eine Chance bei Noel haben wollte. Aber was, wenn Noel nur auf Frauen stand und Nikolaj als einfachen Freund sah? Würde ein Geständnis ihn dann nicht vor den Kopf stoßen, würde er dann nicht riskieren, ihn zu verlieren?

Aber was blieb ihm noch, wenn er nicht für immer hinterfragen wollte, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte?

* * *

Die nächste Woche ging er Noel aus dem Weg, während er überlegt, was das beste Vorgehen wäre. Es war zu viel Zeit vergangen, um unschuldig nachzufragen, wer die Frau war. Zudem hätte er dann erklären müssen, warum er sie nicht einmal gegrüßt hatte. Das schied also aus.

Aber er wusste nicht, wie er reagieren sollte, wenn sie sich das nächste Mal begegneten. Was er sagen, was er tun sollte.

»Nikolaj!«, riss Erik ihn schroff aus den Gedanken, »Du lässt seit einer Woche die Akten hier auf dem Tisch versauern. Und dass, wo vorher kaum die Tinte trocken war, da warst du schon damit unterwegs ins Archiv. Was ist passiert?«

Nikolaj schluckte, wich seinem gestrengen Blick aus. »Ich kümmere mich schon drum.« Vielleicht war es gut, wenn er Noel nicht mehr aus dem Weg gehen konnte.

»Gut. Ich will die Sachen nicht mit ins neue Jahr nehmen.«

Ins neue Jahr … Nein, so lange wollte Nikolaj auch nicht mehr warten.

* * *

Als Nikolaj ins Archiv eintrat, war direkt offensichtlich, dass sich etwas verändert hatte: Der Türbogen, der Schreibtisch sowie Decke und Wände im Eingangsbereich waren festlich geschmückt mit grünen Zweigen, weißem Kunstschnee und roten Schleifen. Für einen Moment war er so baff, dass er die Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, wieder vergaß.

Noel sah ihn wortlos an. War er wütend? Nein, da war ein kleines, amüsiertes Lächeln, das sich in seinen Mundwinkeln abzeichnete. Er legte den Kopf schief und musterte Nikolaj. »Ich dachte schon, ich sehe dich gar nicht mehr wieder.«

Viel zu grob knallte Nikolaj die Akten auf den Schreibtisch. »Vo-von Erik. Ich, äh, …« Er drehte sich um. Gott, konnte er sich noch peinlicher benehmen?

»Was ist passiert, dass du mir plötzlich aus dem Weg gehst? Selbst in der Kantine sehe ich dich nicht mehr.«

Wer war die Frau? Sah Noel in ihm nicht mehr als einen Freund? Statt die Fragen laut auszusprechen, wiederholte er sie in seinem Kopf wie ein Mantra.

»Sprich mit mir, Nikolaj. Ich dachte, über diese bockige Phase wären wir hinaus.«

»Bockig?«, blökte er und wandte sich wieder um. »Ich bin nicht bockig.«

»Was soll das kindische Verhalten denn sonst bedeuten?«

»Ich … ich bin nur schüchtern und verwirrt und weiß nicht …« Er schüttelte sich, machte einen Schritt auf den Schreibtisch zu, dann wieder einen zurück.

Noel stand auf, ging zu ihm, bis er dicht vor ihm stand. »Was weißt du nicht?«

»Die brünette Frau«, platzte er hervor. »War das deine Freundin?«

Noel blinzelte, dann lachte er. »Dann hatte ich recht. Du warst das, der am Eingang stand und uns beobachtete. Sie hatte so etwas erwähnt. Dass sie eine dämonische Präsenz spürte, die ihr aber gar nicht gefährlich erschien.«

Nikolaj verstand nicht.

»Nein, das war nicht meine Freundin. Das war meine Mutter.«

»Aber … sie war doch noch so jung.«

»Hexen sieht man ihr wahres Alter meist nicht an, außer sie wollen es. Selbst die weißen Hexen sind da zu eitel für. Du solltest sie auch nie danach fragen. Selbst ich weiß nicht, wie alt sie ist.«

»Ach so«, murmelte Nikolaj, plötzlich beschämt.

»Aber warum …«, fuhr Noel neckend fort, »… interessiert es dich, mit was für Frauen ich mich treffe?«

Nikolaj blickte auf, verlor sich wieder in Noels haselnussbraunen Augen. Sie standen so dicht zusammen, dass es nur eines kleinen, letzten Schrittes bedurfte, die Lücke zwischen ihnen ganz zu schließen. Vielleicht war das ein Zeichen. »Ach verdammt«, murmelte er, legte die Hand in Noels Nacken, zog ihn zu sich und küsste ihn.

Noels Lippen waren so zart, wie sie aussahen, und schmeckten nach einer Mischung aus Minze und Honig, die berauschend auf Nikolaj wirkte. Er hätte sie noch den ganzen Tag küssen können, doch dann schob Noel ihn weg.

Schmerzhaft zog sich Nikolajs Magen zusammen. Hatte er einen Fehler begangen?

Aber Noel sah ihn atemlos an und lächelte. »Na also, darauf hab ich die letzten Monate gewartet.« 

Dann küsste er ihn.

Und Nikolaj wusste, dass er ihn freiwillig nie wieder loslassen würde.