Es kam selten vor, dass Raphael glaubte, jemanden schon einmal gesehen zu haben. Schließlich war er blind.
Doch nur blind für die meisten Dinge.
Die Dinge, die sich in der Welt der Lebenden abspielten.
Die Welt der Toten hingegen erstrahlte vor ihm in ihrer mannigfaltigen Vielfalt, wann immer sie sich durch einen Riss im Weltengewebe in die Welt der Lebenden ergoss. Dort jemanden wiederzusehen, war nicht gänzlich ungewöhnlich. Manchmal sah er Schnitter, die ihrer Arbeit nachgingen, mehr als einmal. Einige Geister hatten sich an Orten in seiner Umgebung festgesetzt und er hatte sich an ihre Anwesenheit gewöhnt.
Der junge Mann, der gerade an ihm vorbei in Spiekes Büro gerauscht war, war jedoch kein Geist und auch kein Schnitter. Er gehörte eindeutig zur Welt der Lebenden. Denn Spieke unterhielt sich lebhaft mit ihm, auch wenn Raphael durch die verschlossene Tür die Stimmen nur gedämpft hörte. Nur ihren Rhythmus, ihre Melodie, nicht die einzelnen Worte.
Er setzte sich auf einen der Wartestühle, so, dass er den Flur im Blick hätte, wenn der Fremde wieder ging.
Er versuchte sich zu erinnern, wo und wann er ihn das erste Mal gesehen hatte.
Es muss gewesen sein, bevor sein Großvater starb, bevor er Jerun getroffen hatte. Bevor er sich endlich sicher sein konnte, dass er nicht verrückt war, sondern dass er diese Dinge wirklich sah.
Er grub noch in seinen Erinnerungen, als der Mann das Büro wieder verließ und im Türrahmen stehen blieb. »Erik kommt später noch vorbei«, sagte der Fremde und wandte sich zum Gehen. Seine Stimme war tief. Raphael war sich sicher, sie noch nie gehört zu haben. Dieses goldene Schimmern indes, welches ihn umgab und seine Konturen so deutlich nachzeichnete, dass er ihn fast richtig, plastisch vor sich sah, das hatte er schon einmal gesehen.
»Warte, Nikolaj, richte ihm aus, dass er Kuchen mitbringen soll.«
Er blickte über die Schulter zurück. »Wieder Erdbeerkuchen?«
»Nein, ja, meinetwegen. Aber das war Berts Lieblingskuchen. Nicht meiner.«
Dann hatte sein Großvater etwas damit zu tun.
Erik und Nikolaj. Die Namen kamen ihm bekannt vor.
Nikolaj rauschte an ihm vorbei. Der Duft von Moschus, Erde und Schießpulver hing an ihm. Und ein anderer, kühler Duft, den Raphael nicht einordnen konnte, den er jedoch kannte.
Siedend heiß fiel es ihm wieder ein.
Es musste jetzt fast 10 Jahre her sein. Er saß nach der Schule im Präsidium, wie so oft, und wartete darauf, dass sein Großvater Zeit hatte, sich seine Hausaufgaben anzusehen. Da bemerkte er den eigentümlichen Geruch und hob den Kopf. Der Junge lehnte an der Wand vor Großvaters Büro. Leise Kampfgeräusche plärrten aus seinem Gameboy und er fluchte hin und wieder unterdrückt.
Eine goldene Aura, wie sie ihn umgab, hatte Raphael noch nie zuvor gesehen. Geister schimmerten blau-silbern, genauso silbern wie die Wesen, die den Tod brachten. Aber der Junge war wirklich hier. Er roch ihn, hörte ihn atmen. Er war ein Mensch. Raphael sah öfters Menschen, denen graue Schatten folgten. Erst einige Tage zuvor hatte er einen solchen Mann bei Spieke gesehen.
Dieser Junge war jedoch anders.
Er musste Raphaels bohrenden Blick bemerkt haben. »Is’ was?«, fragte er gereizt.
Hastig schüttelte Raphael den Kopf. »Nein.«
In dem Moment öffnete sich das Büro seines Großvaters.
Die Stimmen sprachen durcheinander, er erkannte Großvater, Spieke und einen dritten Mann. Ein Mann mit einem grauen Schatten. Alle hielten inne, schwiegen einen Moment. »Dein Enkel?«, flüsterte der fremde Mann, als glaubte er, Raphael würde ihn dann nicht hören.
»Ja, Erik, das ist mein Raphael.« Sein Großvater klang seltsam besorgt.
Der Fremde, Erik, erwiderte darauf nichts. Er packte den Jungen am Arm. »Lass uns gehen, Kolja.«
»Aber mein Spiel!«
»Nikolaj!« Er zerrte den Jungen hinter sich her. Raphael zwang sich, ihm mit dem Blick nicht zu folgen.
Es war eine seltsame Begegnung, über die sein Großvater nie gesprochen hatte.
Raphael hatte sehr lange nicht mehr darüber nachgedacht.
Jetzt war dieser Nikolaj wieder hier. Bei Spieke.
Was war hier los?
* * *
»Es ist seltsam, findest du nicht?«
In den Momenten, in denen er sich mit anderen unterhielt und ihre Gesichtsausdrücke nicht sehen konnte, ärgerte es ihn besonders, blind zu sein. So lange, wie Jerun nichts sagte, würde er nicht wissen, ob er Raphaels Geschichte glaubte oder gerade ein Loslachen unterdrückte.
Doch seine Stimme klang sehr ernst, als er zu sprechen begann. »Ich kann dir auch nicht sagen, was die Dinge, die du da gesehen hast, bedeuten. Deine Fähigkeiten sind mir immer noch ein Rätsel. Schnitter wandeln in einer Art Zwischenwelt. Nicht sichtbar für die Augen der Menschen. Da du mich sehen konntest, wirst du wahrscheinlich diese ganze Welt sehen können, die diese Wirklichkeit überlagert. Vielleicht auch andere Welten.«
»Andere? Wie viele Welten gibt es denn noch da draußen?«
Jerun schwieg einen Moment. »Ich war immer nur ein kleines Licht, das nie viel auf Gerüchte gegeben hat und auf Geschichten. Von den Welten, die ich ohnehin nicht sehen konnte, wollte ich nichts wissen. Es gibt jedoch eine Welt, zwischen Himmel und Hölle, in der die Dämonen leben sollen, wenn sie gerade nicht auf der Erde ihr Unwesen treiben..«
Raphael brauchte einen Augenblick, diese Worte zu verarbeiten. »Warte, Dämonen?« Die letzten beiden Jahre hatten sie nicht viel über die Dinge geredet, die sich in den Schatten der Wirklichkeit verbargen. Raphael hatte sich nach einem friedlichen Leben gesehnt. Nach einer ganz normalen, glücklichen Beziehung mit seinem neuen Freund. Nach Beschaulichkeit und Ruhe – nicht nach noch mehr Mysterien. Von sich aus hatte Jerun das Thema nie angesprochen. Für ihn war es wichtiger gewesen, sich in der Welt der Menschen zurechtzufinden.
Nach den Dingen, die geschehen waren, mussten sie erst wieder zur Ruhe kommen.
Bis jetzt war ihnen das auch gut gelungen.
Raphael hatte sich auf sein Studium konzentriert und war mit gut der Hälfte seines Bachelors durch. Er wusste allerdings noch immer nicht, was er mit »Social Policy and Criminology« anfangen sollte. Vielleicht würde er doch noch Jura studieren und in die Fußstapfen von Matt Murdock treten. Wenn auch nicht in die von Daredevil. Dafür war er doch schlichtweg zu unsportlich.
Jerun hatte sich dagegen dem Kampfsport verschrieben – was Raphael sehr gefiel, wann immer er die harten Muskeln anfasste. Nachdem Jerun den schwarzen Gürtel gemeistert hatte, arbeitete er an seinem Trainerschein, um Taekwondo auch unterrichten zu dürfen. Raphael bedauerte es, ihm nie beim Training zuschauen zu können, vertraute aber auf das Urteil der anderen, die gerne bestätigten, was für eine gute Figur er dabei machte.
Sie waren so normal gewesen, wie man in ihrer Situation normal sein konnte.
Bis jetzt.
»Genaues weiß ich da auch nicht«, fuhr Jerun fort, »Nicht viel mehr, als dass es sie gibt. Meine Freundin Vanth, bei der ich am Anfang untergekommen war, wurde von IHM in eine Dämonin verwandelt, damit sie die Ewigkeit mit Ridwan verbringen kann.«
Er hatte gewusst, dass die beiden keine Menschen waren, hatte bloß nie nachgefragt. Ein Teil von ihm hatte es gar nicht so genau wissen wollen. »Ridwan ist auch eine Dämonin?«
»Nein, sie ist ein Engel – Engel kann man jedoch nicht werden, Dämon dagegen schon. In der Regel allerdings nur, wenn man wirklich großen Mist gebaut hat. Daher sind die beiden vielleicht kein so gutes Beispiel. Doch davon ab sind sie auch die Einzigen, die ich kenne. Aber natürlich wird es noch mehr geben.«
Raphael nickte vor sich hin, sortierte seine Gedanken. Er hatte weder Vanth noch Ridwan in den vergangenen Jahren kennengelernt, obwohl sie hin und wieder angerufen hatten, um sich nach Jerun zu erkundigen. Er konnte also nicht sagen, ob sie eine ähnliche Aura hatten wie dieser Nikolaj.
Die naheliegende Lösung war schlicht und ergreifend zu fragen – dann bestand allerdings die Gefahr, dass Spieke ihn wieder nicht ernst nahm. Vielleicht wusste er gar nicht, dass dieser Nikolaj kein gewöhnlicher Mensch war. Jerun band es ja auch niemandem auf die Nase, dass er einmal ein Schnitter gewesen war. Raphael selbst schwieg ebenfalls lieber über seine besonderen Fähigkeiten. Wenn Spieke es nicht wusste, dann würde das Ganze ziemlich nach hinten losgehen.
Also musste es die schwierige Lösung sein. Raphael grinste. Damit, mysteriösen Geheimnissen auf den Grund zu gehen, hatten Jerun und er ja schon Erfahrung.
* * *
Sie waren sofort zurück zum Präsidium gefahren – letztes Jahr hatte Jerun seinen Führerschein gemacht und sie hatten Opas alten Käfer wieder in Schuss bringen lassen.
In den Ledersitzen hing immer noch der gleiche rau-herbe Geruch, der Raphael durch seine gesamte Kindheit begleitet hatte.
Er hatte in diesem Wagen auf dem Rücksitz gesessen und geweint, als sie von der Beerdigung seiner Eltern zu Großvater nach Hause gefahren waren. Wie oft hatte Großvater ihn in dem Wagen zur Schule gefahren, zu Emma oder zum Spielplatz? Wie oft hatte Raphael auf den Rücksitzen gelegen und Hörspiele auf seinem Walkman gehört, während Großvater etwas Wichtiges erledigte und er keine Lust gehabt hatte, mitzukommen?
Selbst heute ließen ihn diese Erinnerungen nur selten los.
Und jetzt verfolgten sie in dem Käfer einen Geist aus der Vergangenheit. Wie passend.
Jerun hatte den Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Präsidium abgestellt. In einer Ecke, wo man sie vom Eingang aus wegen einer kleinen Hecke nicht gleich bemerken würde, wenn man nicht gezielt in ihre Richtung blickte. Sie hatten dagegen von hier aus den Großteil des Parkplatzes im Blick.
Spieke wollten sie nicht auffallen, sollte er mit Nikolaj und Erik herauskommen. Die beiden würden den Wagen höchstwahrscheinlich nicht erkennen.
Die Zeit zog sich wie Kaugummi. Raphael lauschte auf Jeruns Atmen, das Ticken seiner Armbanduhr und behielt die ganze Zeit seinen Blick starr auf den Parkplatz gerichtet, bis seine Augen tränten und er mehrmals heftig blinzeln musste.
Er rieb sich über die Augen. Als er wieder aufsah, betraten Nikolaj und der Mann mit dem Schatten, der dann wohl Erik war, den Parkplatz. »Das sind sie«, keuchte er.
»Das dachte ich mir – Spieke ist bei ihnen. Er ist hinten im Wagen eingestiegen.«
Mist. Wenn Spieke bemerkte, dass sie ihn verfolgten, würde er sie erkennen und das wäre vielleicht ein Problem. Oder vielleicht würde es ihn zu den Antworten animieren, die Raphael hören wollte.
Zumindest war es ein Versuch.
Vielleicht ihr Einziger, sollte Nikolaj ihm nicht noch einmal zufällig über den Weg laufen.
»Alles bleibt beim Plan.«
Jerun startete den Wagen.
Der Käfer schob sich im Schneckentempo durch den Stadtverkehr. Seit alle eingestiegen waren, konnte Raphael weder den dunklen Schatten noch die goldene Aura sehen, sodass er sich völlig darauf verlassen musste, dass Jerun an ihnen dran blieb.
Eine hilflose Situation, die ihm gar nicht passte.
Er knetete die Hände, die er in seinem Schoß liegen hatte und kaute auf der Innenseite der Wange, um die Nervosität zurück zu kämpfen. Auch wenn das nicht viel nutzte.
»Wo sind wir gerade?«, fragte er zum wer weiß wievielten Male.
Der Blinker begann zu ticken. »Wir biegen gerade in eine Seitenstraße ab. Wir haben die Innenstadt hinter uns gelassen und sind in irgendeinem Industriegebiet, wo ich noch nie war.«
Raphael wurde nach vorne geschleudert, als Jerun plötzlich bremste.
»Jetzt sind sie auf einen Parkplatz gefahren – ich hätte fast die Einfahrt verpasst. Soll ich hinterher?«
Hektisch sah Raphael sich um. Links von sich konnte er in der Ferne ganz klein das Schimmern erkennen.
»Blicken sie in unsere Richtung?«
»Nein, soweit ich es sehen kann, haben sie uns noch nicht bemerkt. Es wird schon dunkel, und ich habe das Licht nicht eingeschaltet.« Er schwieg einen Moment. Das Schimmern wurde schwächer, ebenso wie der graue Schatten, bis beides verschwand. »Sie sind in ein Fabrikgebäude gegangen.«
»Dann hinterher.«
Langsam fuhr der Wagen wieder an, sie fuhren auf den Parkplatz und stiegen aus. Zur Sicherheit hatte Raphael seinen Blindenstock dabei.
Normalerweise nahm er den Stock nicht mit, wenn er mit Jerun unterwegs war. Schließlich war es der perfekte Vorwand, Jeruns Hand zu halten oder bei ihm eingehakt und an seine Schulter gelehnt durch die Straßen zu spazieren. Doch ohne zu wissen, was auf sie zukam, würde er nichts riskieren. Und obwohl er nicht Daredevil war, zuschlagen konnte er mit dem Stock immer noch ganz gut.
Trotzdem streckte er die Hand nach Jerun aus, ließ die Finger zwischen seine gleiten und drückte sie. Er war sich nicht mehr ganz sicher, ob er die Antworten wirklich wissen wollte, die auf der anderen Seite der Tür lagen.
Andererseits hatten sein Großvater und Spieke jahrelang geleugnet, dass Raphaels Fähigkeiten echt sein konnten. So lange, bis Raphael selbst an seinem Verstand zweifelte. Sollte das alles nur eine Lüge sein, dann musste er das wissen. Und dann musste er wissen, warum.
»Bist du bereit?«, flüsterte Jerun nah an seinem Ohr. Ihm lief ein wohliger Schauer über den Rücken.
»Wenn du bei mir bist, immer.«
Der Kies knirschte unter ihren Schritten so laut, dass Raphael sich sicher war, man müsste sie hören. Es eilte jedoch niemand aus der Tür hinaus, um sie am Näherkommen zu hindern.
»Wir sind an der Tür«, flüsterte Jerun, »Ich werde kurz hineinsehen, was da drinnen vor sich geht. Dann hol ich dich hinterher.«
Als sich ihre Finger voneinander lösten, ging ein Frösteln durch Raphaels Körper.
Er lauschte auf das Knarren der Tür, die leisen Schritte, hoffte, dass wer auch immer da drinnen war, nicht sein Gehör hatte. Oder ihnen zumindest wohl gesonnen genug war, dass er ihnen nichts tat.
Es fiel ihm unendlich schwer, sich zu beruhigen und sich keine Schreckenszenarien auszumalen. Dabei war es Quatsch – wenn Spieke mit diesem Erik und Nikolaj zusammenarbeitete, konnten sie keine schlechten … was auch immer sein. Er glaubte nicht, dass er oder Großvater sich so sehr in Spieke hätten täuschen können.
Erleichtert atmete er auf, als Jerun wieder nach seiner Hand griff. »Sie sind in einer der hinteren Lagerhallen. Da ist allerdings noch jemand Viertes, den sie an einen Stuhl gefesselt haben und scheinbar verhören. Aber das nicht auf die guter Bulle Methode. Der Boden ist voller Blut und sie sind abgelenkt, sodass sie uns nicht bemerken dürften, wenn wir uns nicht allzu ungeschickt anstellen. Wir können uns hinter einigen Gerätschaften verstecken, wo wir einen Blick zu ihnen werfen können, sie hören können, selbst jedoch fast unsichtbar sind.«
Raphael drückte Jeruns Hand und ließ sich von ihm in das Gebäude führen.
Er setzte seine Sonnenbrille ab – irgendwann hatte er bemerkt, dass er mit Brille zumindest einen Teil des Geisterstrahlens aussperren konnte – und ließ seinen Blick schweifen. Durch eine Öffnung strahlte das silberne Licht, das Raphael von Geistern kannte.
Er presste die Lippen fest aufeinander und wappnete sich für das, was ihn auf der anderen Seite erwartete.
Was er dann sah, als sie durch den Durchgang traten, stahl ihm den Atem, ließ ihn schwindelig werden.
Eine junge Frau, die am Boden lag, um sich trat, schlug und schrie und der die Kehle herausgebissen wurde. Ihr Blut ergoss sich silbern über den Boden, bis ihre Glieder erschlafften und ihr Kopf zurückfiel. Das Ganze spulte sich abgehackt zurück wie ein Film im Schnellrücklauf und begann wieder mit dem Angriff, der sie zu Boden riss. Mit Klauen, die sich in ihre Schulter gruben und ihre Bluse zerfetzten.
Raphael schluckte schwer und presste die Lider zu. Doch das Bild hatte sich eingebrannt und verblasste nur langsam.
Jerun bemerkte sein Unwohlsein, griff ihm hastig unter die Arme und stützte ihn. »Es ist nicht mehr weit«, raunte er in sein Ohr.
Er nickte, stolperte die nächsten Schritte jedoch mehr, als er sie ging. Er hatte lange nicht mehr etwas so Furchtbares gesehen. Seine Gabe hatte ihm schon vieles gezeigt, was niemand sehen müssen sollte, und er hatte es sich angewöhnt, Seitengassen, abgelegene Wege und Wälder zu meiden. All die Schauplätze, an denen man das Grauen erwartete. Wenngleich ihn manchmal der Schrecken an ganz alltäglichen Orten hinterrücks überraschte.
Nie jedoch etwas so erschreckendes wie das hier. Wie etwas, bei dem er sich sicher war, dass der Mörder kein Mensch sein konnte.
Jerun hielt an. Als Raphael die Augen wieder aufschlug, erkannte er, teils verdeckt von etwas, was ihn von der Form an einen Gabelstapler denken ließ, vor sich das goldene Schimmern, den grauen Schatten und ein mattes rotes Leuchten, das ebenfalls jemanden wie eine Aura zu umgeben schien. Das musste die Person sein, die sie verhörten.
Er beruhigte sein hektisches Atmen und lauschte.
Nikolajs Stimme war es, die er als Erstes hörte. »Sag uns die Wahrheit, wo ist sie?«
Vom Stuhl her erklang ein heiseres Lachen. »Von einem widerlichen Dämon lass ich mir nichts sagen.«
Nikolaj holte aus und schlug dem anderen ins Gesicht. »Halt dein Maul, dreckiger Vampir. Und wag es nie wieder, mich so zu nennen.«
Der Mann schüttelte sich und hustete. »Dann halt Halbdämon. Das ist auch nicht besser, nix Ganzes zu sein.«
Halbdämon? Das wurde immer besser. Immer abstruser. Raphael presste die Hand auf den Mund, um nicht loszulachen.
Hatte er richtig gehört? Was, in drei Teufels Namen, hatte Spieke mit Vampiren und Dämonen am Hut? Ausgerechnet Spieke, der doch an gar nichts glaubte?
Selbst Raphael fiel es schwer, das hier nicht als schlechten Scherz abzutun. Hätte er die Auren nicht so deutlich gesehen. Er schob sich gegen die Wand, versuchte das Glucksen zurück zu kämpfen, während die Lachtränen seine Wangen hinunterliefen.
Er wusste, er durfte nicht entdeckt werden, aber er konnte das Prusten nicht mehr unterdrücken.
Ein »Sch« ging durch den Raum, alle verstummten und Raphaels Lachen war das einzige Geräusch.
Spieke meldete sich jetzt zu Wort, und Raphael hörte das Klicken, wie wenn ein Revolver entsichert wurde. »Wer ist da? Zeig dich, Monster.«
Er schlang die Arme um sich, hielt sich fest und der Blindenstock fiel klirrend zu Boden.
»Was sollen wir tun?«, raunte Jerun neben ihm ängstlich. Raphael konnte nur den Kopf schütteln. Ihr wundervoller Plan, ihnen unauffällig zu folgen, war ja grandios gescheitert!
»Ich bin es nur, Onkel Spieke«, rief er schließlich, was ein ungehaltenes Fluchen von Spieke provozierte.
Jerun führte ihn hinter seinem Versteck hervor. Seine Hand war schweißfeucht, aber er sagte nichts.
»Ich wollte wissen, wer er ist.« Raphael nickte in Nikolajs Richtung. »Warum ich dieses Schimmern um ihn herum sehen kann. Warum du mit ihnen Geschäfte zu betreiben scheinst, während du und Großvater immer behauptet habt, es gäbe diese Dinge, die ich sehe, gar nicht. Obwohl ich ganz genau weiß, dass es sie gibt, dass ich nicht verrückt bin.« Er holte tief Atem. »Nur dachte ich bisher, ihr hättet nur nicht daran geglaubt, nichts davon gewusst, so wie die meisten Menschen es als Aberglauben und Unfug abtun würden. Und mir nicht bewusst etwas vorgemacht. Aber jetzt stehe ich hier und höre Geschichten von Vampiren und Dämonen.« Er schnaubte und nickte in Richtung des Eingangs. »Falls es dich interessiert: Wenn diese sie, von der ihr gesprochen habt, eine junge Frau war mit geflochtenem langen Haar, einer schmalen Stupsnase und eng stehenden Augen, dann wurde sie dort vorne an der Tür überfallen und ermordet. Etwas hat ihr die Kehle zerbissen – passt doch irgendwie zu einem Vampir, nicht wahr?«
Es ruckte auf dem Stuhl jetzt heftig hin und her. »Der Junge lügt, ich habe sie nicht getötet.« Das klang aufrichtig. Ehrlich bestürzt über den Tod der jungen Frau.
»Das habe ich nicht behauptet«, warf Raphael scharf ein. »Nur, dass sie hier gestorben ist und dass es wohl ein Vampir war. Aber wenn du es nicht warst, wer war es dann?«
Es war seltsam still geworden. Niemand wagte, etwas zu sagen. Niemand wusste, was er sagen sollte.
Der Vampir war es schließlich, der das Schweigen durchbrach. »Sie wurde an der Tür getötet, sagst du? Ein Vampir hat sie angefallen?«, fragte er ruhig. »Du bist dir ganz sicher, Seher?«
So hatte ihn noch nie jemand genannt. »Ich habe ihren Tod gesehen. Ob es ein Vampir war? Wenn hier noch mehr rumläuft, was Menschen die Kehlen zerfetzt, wer weiß.«
Der Vampir spuckte aus. »Und ich habe diesem Bastard vertraut«, murmelte er und sprach dann lauter weiter. »Gut, ihr bekommt all eure Antworten. Er hatte mir versprochen, dass ihr nichts geschieht, wenn ich ihn decke. Jetzt habe ich keinen Grund mehr dafür.«
* * *
Die Hintergründe des Mordes interessierten Raphael nicht – den Rest des Verhörs überließ er gerne Erik und Nikolaj.
Wichtiger war ihm, endlich von Spieke zu erfahren, was hier wirklich vorging und warum man ihn so lange im Dunkeln gelassen hatte.
Spieke hatte ihn bereitwillig nach draußen begleitet – Jerun war zurückgeblieben, um ihnen Zeit und Ruhe für ihre Aussprache zu geben – , schwieg jedoch.
Raphael verschränkte die Hände vor der Brust. »Ich warte noch auf Antworten und bin ganz Ohr.«
Spieke seufzte. »Wo soll ich da anfangen?«
»Am Anfang – ich habe Nikolaj schon einmal gesehen, vor gut zehn Jahren. Du weißt also schon längere Zeit, dass ich mir die Sachen nicht nur einbilde.«
Spieke schwieg einen so langen Moment, dass Raphael nicht mehr glaubte, noch eine Antwort zu erhalten. »Damals, vor zehn Jahren, habe ich von dieser Welt erfahren. Sie existiert neben unserer und dein Großvater war die Kontaktperson zu einer geheimen Abteilung des BKAs. Die Abteilung, für die Erik und inzwischen Nikolaj arbeiten. Sie ermitteln in allen Fällen, bei denen wir mit unserem Latein am Ende sind. Und wir sorgen dafür, dass sie nicht bemerkt werden.«
»Ich habe sie bemerkt.«
»Wir hätten es dir vielleicht früher sagen sollen, aber dein Großvater und ich, wir wollten dich schützen. Wir wollten dich aus dieser Welt heraushalten, damit du ein normales Leben führen konntest. So normal, wie es in deiner Situation möglich war. Bert hoffte, dass du die Dinge, die du sahst, irgendwann als Trugbilder abtun und ihnen nichts mehr beimessen würdest.«
Raphael lachte verbittert auf. »Wie sollte ich die Bilder ignorieren, die mich in jeder Gasse verfolgten? Die Toten sind überall – du kannst ihnen nicht entkommen. Das Einzige, was ihr erreicht habt, ist mich an mir selbst, meinem Verstand zweifeln zu lassen. Eure Vorstellung von Sicherheit wäre mein Wahnsinn gewesen.«
»Versteh doch: Diese Welt ist gefährlich. Gefährlicher, als du dir vorstellen kannst.«
»Als ob unsere Welt nicht gefährlich genug ist.« Er dachte an die Narben von seinen Schussverletzungen, die an manchen Tagen immer noch pochten. Er dachte an Emma.
Es brauchte keine Vampire und Dämonen.
Spieke schien ebenfalls an den Fall von damals zu denken. Er grummelte leise vor sich hin, bevor er weitersprach. »Da hast du recht. Trotzdem … wir wollten dich nur beschützen, so gut wir konnten, vor den Dingen, die in den Schatten lauern. Von einer Welt, wo du durch ein falsches Wort deine Seele verlieren kannst.«
»Ich bin kein hilfloser, kleiner Junge mehr, den man beschützen muss. Das weißt du.«
»Ich habe die Verantwortung für dich übernommen, als dein Großvater starb.« Er seufzte abermals. »Doch vielleicht ist die Zeit längst gekommen. Es ist nur so schwer, loszulassen …«
»Du musst mich ja nicht loslassen. Mir wäre es sogar lieber, wenn du mich endlich dazu holst. Denn diese Welt, vor der du mich schützen willst, ist eine Welt, in der ich von Nutzen sein kann. In der ich Dinge bewirken kann, die anderen helfen. In der mein Fluch zu meinem Segen wird. Ich habe es doch gerade erst unter Beweis gestellt.«
»Er hat recht.« Das war Nikolaj. »Ohne ihn hätten wir diesen Fall vielleicht nie gelöst.« Er reichte ihm die Hand. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir uns richtig kennenlernen.«
Raphael schlug ein.
Die Lügen hatten endlich die Schatten verlassen und sich im Licht aufgelöst.