Julie d’Aubigny hatte sich nie gescheut, zu lieben. Gleich der Konsequenzen für sie und andere. Nur dieses Mal hatte sie eine Grenze überschritten.
Sie konnte Aimées weit aufgerissenen Augen nicht vergessen. Der verzweifelte Blick, in dem Moment, als ihre Eltern sie Julies Armen entrissen und fortgebracht hatten. Es schmerzte ihr in der Seele, daran zu denken, was mit ihrer Geliebten geschehen war. Und das nur, weil die Menschen in diesem Land so furchtbar borniert und prüde sein konnten!
Lange hatte Julie nach Aimée gesucht, Männer bezirzt mit ihrem Charme – oder ihrem Degen –, um ihren Aufenthaltsort zu erfahren: ein kleiner Konvent des Ordens von der Heimsuchung Mariens in Avignon. Ein Ort, an dem die arme Aimée geheilt werden sollte von ihren Perversionen. Auch wenn ihre einzige Perversion darin bestand, jemanden zu lieben, der in den Augen dieser scheinheiligen Gesellschaft das falsche Geschlecht hatte.
Ein Lächeln schlich sich auf Julies Lippen. Sie würde ihnen schon ein Schnippchen schlagen. Schließlich war sie bereits jetzt die berüchtigte La Maupin und auch die hohen Mauern eines Nonnenklosters würden sie nicht von ihrer Geliebten fernhalten können. Nicht für lange.
Hinter ihr lachte jemand, trat aus den Schatten der Bäume hervor. Es prickelte unangenehm in ihrem Nacken. Jean!
»Und du denkst, dass es so einfach wird?« Er blickte sie aus gelb leuchtenden Augen an, bleckte seine spitzen Eckzähne. »Das sind keine gewöhnlichen Nonnen, mit denen du es hier zu tun hast. Sie tragen zwar den Namen des Ordens, doch einzig der Heimsuchung, derer werden sie gerecht.« Lautlos schritt er an ihre Seite, ließ seine Finger zärtlich über ihren Nacken streichen.
Julie lachte. »Jean, Jean! Wie oft habe ich es dir gesagt: Deine Tricks brauchst du bei mir erst gar nicht zu versuchen.«
Der Vampir lächelte schief, dunkelblonde Haarsträhnen fielen ihm in sein Gesicht, das nur ein bisschen zu lang war, um wirklich hübsch genannt zu werden. »Eines Tages gehörst du mir. Eines Tages fallen alle.«
»Alle? Du weißt doch genau, dass ich nicht wie alle bin. Und ich dachte, das ist es, was du an mir liebst?«
Verdrossen sah Jean weg. »Du wirst zu mir kommen – und du wirst den Preis für meine Hilfe zahlen.«
Sein Schatten verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Sie blickte zurück zum Konvent, welches sich vor ihr in den Himmel reckte. Sie hatte einen Plan und morgen würde sie ihn umsetzen. Dafür brauchte sie Jean nicht.
* * *
Die Mutter Oberin musterte Julie mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Du willst als Novizin zu uns stoßen, liebes Kind?«
Julie starrte an ihr vorbei, auf die graue, grobschlächtige Wand. Eine fette Spinne hatte dort ihr Netz aufgespannt. In grazilen Schritten bewegte sie sich auf ein neues Opfer zu, das sich in den klebrigen Fäden verfangen hatte. Die Worte drangen nur dumpf an Julies Ohr. Hastig nickte sie. Im Blick der Mutter Oberin lag irgendetwas, was es für Julie unmöglich machte, ihr direkt in die Augen zu sehen. »Mein Leben bisher war leer und trostlos. Nur in der Nähe Gottes kann ich noch meine Erfüllung finden.« Sie seufzte theatralisch auf und bekreuzigte sich.
Die Mutter Oberin räusperte sich. »Diese Hallen sind keinem Suchenden verschlossen.« Der schwere Stoff ihres Gewandes raschelte, als sie auf Julie zuging, ihr eine Hand an die Wange legte. »Ich bin Schwester Marie-Louise-Thérèse, und ich werde dir den rechten Weg weisen. Komm, liebes Kind, komm!«
* * *
Das Zimmer, in das die Mutter Oberin Julie gebracht hatte, war karg eingerichtet. Eine muffige Strohmatratze lag am Boden, daneben standen ein Nachttopf sowie ein kleiner Schemel mit einem Krug Wasser und einem Becher darauf. Weit über ihrer Kopfhöhe lag ein vergittertes Fenster, durch das fahl das Mondlicht drang.
Sie hatte gehofft, auf dem Weg Aimée zwischen den anderen Nonnen zu entdecken – aber dafür hätte sie überhaupt andere Nonnen oder Novizinnen sehen müssen. Doch die schmalen, düsteren Gänge lagen verlassen. Das einzige Geräusch war das Knarren und Atmen der Wände. Ein kalter Windhauch streifte ihr Gesicht, ließ die Kerze in der Hand der Mutter Oberin flackern.
Als Julie in ihr Zimmer trat, stellte sie die Frage, darauf bedacht, nicht zu forsch zu wirken: »Wo sind meine anderen Schwestern?«
Im Schimmer der Kerze konnte Julie den Gesichtsausdruck ihres Gegenübers nicht erkennen, aber als die Mutter Oberin antwortete, klang es, als lächelte sie. »Du wirst sie kennenlernen, wenn es an der Zeit ist.«
Dann schlug die Tür zu, sie hörte das Schaben und Knacken des Schlüssels. Eine klamme Angst ergriff sie. Sie betete, dass sie sich soeben nicht selbst zur Gefangenen gemacht hatte.
* * *
Sie spürte Jeans Anwesenheit, bevor er ein Wort gesagt hatte. Dieses eigentümliche Prickeln in ihrem Nacken war nur für ihn reserviert. Seit frühester Kindheit begleitete dieses Gefühl sie nun. Immer hatte er versucht, sie zu verführen, und immer war er gescheitert.
Sie lächelte, sicher, dass er es auch in der Dunkelheit bemerkte. »Siehst du, mein Plan funktioniert.«
»Tut er das?« Jeans wohltönende Stimme schwang durch die Stille, jagte ihr Schauer über den Rücken. »Bitte mich hinein, und ich befreie dich und deine Geliebte.«
»Aus einem Nonnenkonvent? Wie viel Macht hast du schon auf geheiligtem Boden?«
Julie hörte ein ersticktes Lachen. »Geheiligter Boden? Dieser Boden schreit von den Sünden, die hier im Namen Gottes verübt wurden. Aber du glaubst mir nicht, dann musst du die Wahrheit selbst erfahren.«
Das Prickeln in ihrem Nacken verschwand – stattdessen fröstelte es ihr.
* * *
Sie erinnerte sich nicht, wann sie den Schlaf gefunden hatte, als ein eisiger Schwall Wasser sie bereits aus seinen Tiefen hinauf riss. Sie schreckte hoch. Zwei knochige Hände packten sie und pressten sie zurück und auf ihr Bett. Prustend blinzelte Julie und sah hoch in das Gesicht der Mutter Oberin. Ein breites Grinsen verzerrte ihre feinen Züge.
»Bist du wach, Julie d’Aubigny?«
Julie erstarrte – sie hatte sich unter einem falschen Namen vorgestellt. Für den Fall, dass Aimées Eltern sie der Mutter Oberin gegenüber erwähnt hatten.
»Ja, liebe Julie, ich weiß, wer du bist. Die berüchtigte La Maupin, die kämpft und liebt wie ein Mann. Und ich weiß, welches ruchloses Vorhaben dich hierher getrieben hat. Doch ich werde dir den Teufel austreiben und dich Gott erkennen lassen. Dessen sei dir gewiss.«
Bevor Julie etwas entgegensetzen konnte, drang ihr ein süßlicher Geruch in die Nase und im nächsten Moment hüllte Schwärze sie ein.
* * *
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Bauch, auf einer Liege aus kaltem Metall. Ihre Hände und Füße waren an den Gelenken gefesselt. Sie zerrte daran, aber Leder schnitt in ihre Haut. Ein kühler Windhauch strich über ihren Rücken und sie wurde gewahr, dass sie vollkommen nackt war.
»Bist du aufgewacht, liebe Julie.« Die Stimme der Mutter Oberin klang süßlich. Im nächsten Moment zischte etwas durch die Luft.
Im Augenwinkel sah Julie die Ordensschwester. Sie hielt etwas in der Hand, das Julie an eine Reitgerte erinnerte. Nur dass sich an der Spitze Dornen befanden. Erst als das Blut daran hinablief und auf den Boden tropfte, kam der Schmerz. Julie schrie.
Und Mutter Oberin lachte. »Den Teufel werde ich dir austreiben.«
* * *
Wogen von Schmerz breiteten sich über ihren Rücken aus, flossen durch ihre Glieder bis zu ihren Fingerspitzen und Zehen. Sie stöhnte gequält auf.
»Bittest du jetzt um meine Hilfe, liebste Julie?«
Jeans Stimme, so klar im roten Nebel, der sie umgab, ließ sie zusammenzucken. Doch sich die Blöße geben und ihn jetzt anbetteln, dass erlaubte ihr Stolz ihr nicht. Die Mutter Oberin wollte sie exorzieren, also würde sie mitspielen, bis man sie zu Aimée ließ. Kein Schmerz und keine Demütigung konnten ihren Willen brechen. Sie musste die Oberin nur anderes glauben lassen.
»Du riechst köstlich. Tut es sehr weh? Ich kann deine Qualen lindern, das weißt du«, drang Jeans Stimme wieder lockend an ihr Ohr. Die Richtung, aus der er sprach, schien sich mit jedem Wort zu ändern. Wie ein Geier umkreiste er sie.
»Ich werde nie um deine Hilfe bitten«, presste sie zwischen den Lippen hervor. Ihr Mund war trocken, ihre Zunge fühlte sich an wie Sandpapier. Wasser. Was täte sie für einen Tropfen Wasser!
Sie grinste. Viel – aber sicher nicht betteln.
»Das wirst du.« Seine Stimme war wie eine sanfte Berührung, die über ihr Ohr strich. Wie eine Feder, sinnlich und neckend zugleich. »Ich kann länger warten als du.«
* * *
Den nächsten Tag brachte die Mutter Oberin damit zu, ununterbrochen lateinische Formel zu rezitieren. Sie hatte Julie jetzt aufrecht an ein Gestell gefesselt, das einem Kreuz glich. Julie erkannte, dass sie sich wohl im Turm des Konvents befand. Die Decke lag gut zehn Meter über ihr, Wind pfiff durch die schmalen Turmfenster, die sich ein Stück unter dem Dach kreisrund aneinanderreihten. Und auch wenn nur wenig Licht hineindrang, konnte Julie sehen, wie der Tag sich dem Abend neigte, ohne dass die Mutter Oberin ihrem Gemurmel müde wurde.
Bevor sie schließlich ging, hielt sie Julie einen Becher hin. Gierig schluckte sie, bis der beißende Geschmack sie erst husten, dann würgen ließ.
»Na, na, Julie. Es ist nur Essig. Trink aus, es wird die Sünden in deinem Inneren hinweg waschen.« Die Mutter Oberin drückte ihr den Becher an die Lippen, kippte ihn ihr runter. Die beißende Flüssigkeit, die sie nicht schlucken konnte, lief ihr an den Mundwinkeln herab, über ihren geschundenen Körper und brannte in jedem ihrer Kratzer.
Als hinter der Mutter Oberin die Tür ins Schloss fiel, würgte sie und erbrach sich. Sie keuchte und schüttelte sich. Wie viele Tage würde sie so noch überstehen müssen?
Da spürte sie das wohlbekannte Prickeln in ihrem Nacken. »Lass mich dir helfen.«
Irrte sie sich, oder klang Jean gequält, als fühlte er tatsächlich mit ihr?
Sie schüttelte schwach den Kopf. Ihren Plan gab sie nicht auf.
»Bitte mich hinein. Sie wird nicht aufhören, bis du gebrochen bist.«
»Das wird ihr nicht gelingen. Ich bin stark, das weißt du. Ich täusche sie und dann führe ich meinen Plan zu Ende.«
»Sie ist zu scharfsichtig, dass du sie täuschen könntest. Du verlässt diesen Raum entweder gebrochen oder tot.«
Sie reckte den Kopf hoch, erblickte durch eines der Fenster das gelbe Leuchten seiner Augen.
»Ich will dich nicht sterben sehen, meine Julie, weder deinen Geist noch deinen Körper. Bitte mich hinein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde deinen Preis nicht zahlen.«
Ein Heulen zerschnitt die Luft. Dann war er fort.
Fast musste sie lachen. Dein Preis ist mein Leben, hast du das vergessen?
* * *
Sie hatte sich einen Wassertropfen herbeigesehnt. Einen einzigen Tropfen. Jetzt schalt sie sich für diese Torheit.
Am dritten Tag hatte die Mutter Oberin das Weihwasser gebracht. Sie hatte das Kreuz auf den Rücken gelegt und unter weiterem Gemurmel begonnen, Julie mit dem Wasser zu besprenkeln. Erst hatte es sie nicht gestört. Sie war im Gegenteil dankbar gewesen für jeden Tropfen, der auf ihren Lippen gelandet war und den sie hastig ablecken konnte. Sie fühlte sich ausgedörrt, müde. Sobald sie hier raus war, musste sie erst Kräfte sammeln, bis sie ihren Plan umsetzen konnte.
Jetzt wusste sie, wer ebenfalls ein Teil dieses Plans werden würde – auch wenn es riskant war. Aber sie hatte gewusst, dass sie waghalsig sein musste, wenn sie gewinnen wollte.
Während die Mutter Oberin das Weihwasser auf sie sprenkelte, sinnierte Julie mit geschlossenen Augen darüber nach, auf welche Art sie die garstige Ordensschwester töten würde.
Erst sollte es nur ein letzter Ausweg sein in ihrem Plan, für den Fall, dass sie keine passende Leiche aus der Gruft stehlen konnte. Sie wollte es vermeiden, eine unschuldige Nonne opfern zu müssen. Doch wenn Aimées Freiheit auf dem Spiel stand, dann war sie bereit, selbst diesen Preis zu zahlen. Die Unglückliche von hinten zu erdrosseln oder mit einem Kissen zu ersticken, das waren ihre ersten Ideen gewesen. Aber jetzt, wo sie sich die Mutter Oberin auserkoren hatte, musste es etwas anderes sein. Vielleicht griff sie tatsächlich auf Jeans Hilfe zurück – er könnte ihr ein Gift besorgen, dass die Mutter Oberin lähmte und wenn …
Ein plötzlicher Wasserschwall riss sie aus ihren Gedanken.
»Na, na, noch nicht einschlafen, Julie.« Die Mutter Oberin sah mit ihrer Schreckensfratze auf Julie herab. »Für heute Nacht verlasse ich dich. Aber den Heiligen Geist lasse ich bei dir.«
Da bemerkte Julie, dass über ihrem Kopf ein feuchter Schwamm an einem Gestell befestigt war. Ein dicker Tropfen rann an ihm herab, fiel, landete platschend auf ihrer Stirn. Dann, nach einem Moment der Stille, ein weiterer. Und noch einer. Das Platschen schien nicht abzubrechen, auch als die Mutter Oberin schon lange fort war. Irgendwie wurde der Schwamm durch das Gestell feucht gehalten und …
Platsch.
Es war das einzige Geräusch, das …
Platsch.
Es beherrschte bald ihre Gedanken, ließ keinen …
Platsch.
Sie wollte schreien. Doch ihre Kehle war zu trocken und …
Platsch.
Es erfüllte die Stille, alles um sie herum, bis …
Platsch.
Es prickelte in ihrem Nacken.
Platsch.
»Komm herein, Jean!«
Platsch.
Sie hatte es geschrien, ehe sie auch nur an die Folgen gedacht hatte. Im nächsten Moment schepperte es und der Schwamm landete – mit einem letzten Platsch – am Boden.
Jean löste die Fesseln an ihren Armen und Beinen. Zitternd glitt sie hinab auf das muffige Stroh. Sie rollte sich zusammen. Obwohl sie es nicht wollte, drang ein Wimmern über ihre Lippen.
Sogleich fühlte sie seine kalten, toten Finger, sie glitten über ihren nackten Rücken, der von ihrem Blut verkrustet war. Wo er sie berührte, hörte der Schmerz auf. »War das auch ein Teil deines Plans?« Seine Stimme klang rau. Er hielt sie fest, drückte ihren Kopf an seine Brust. Sie hörte kein Herz schlagen und schauderte.
Er war niemand, von dem sie Trost wollte. Gleich wie furchtbar die Situation war.
»Mein Plan steht. Und heute Nacht werde ich ihn umsetzen.«
* * *
Der raue Stoff des Novizinnengewandes kratzte auf ihrer wunden Haut. Jean hatte es aus einer der Kammern entwendet, zusammen mit einem Krug Wasser und einigen Scheiben trocken Brot. Sie schlang beides herunter, seufzte auf und legte den Kopf in den Nacken. Sie war wieder auf ihrem Zimmer, wohl der letzte Ort, an dem die Mutter Oberin nach ihr suchen würde.
Der Mond stand noch hoch am Himmel, aber sie würde sich beeilen müssen, damit sie mit allem vor Sonnenaufgang fertig war. Sie lachte auf. Das würde ein Sonnenaufgang sein, wie ihn noch niemand hier erlebt hatte.
Jean stand in der Ecke des Zimmers, vollkommen in den Schatten eingetaucht. »Ich kann sie für dich töten, wenn du es willst.« Ärger schwang in seiner Stimme mit. »Jeder, der Hand an dich legt, hat sich den Konsequenzen zu stellen.«
Sie schritt zu ihm, griff an seinen Gürtel – er schnappte kurz nach Luft – und zog einen kleinen Dolch hervor und den Degen aus seiner Scheide. »Ich kann sie sehr wohl selbst die Konsequenzen spüren lassen.«
Ein Stück beugte Jean sich vor, sie spürte seine Lippen an ihrem Ohr. »Ruf nur nach mir, wenn du mich brauchst.« Es kitzelte auf ihrer Haut, er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, sah sie aus leuchtenden Augen an. Ein dunkles Lächeln spielte auf seinen Lippen, entblößte die spitzen Eckzähne. »Ich werde jetzt einige der Nonnen vom rechten Weg abbringen. Wenn du fertig bist, brauchen sie ohnehin ein neues Heim.«
Ein Windhauch und er war verschwunden. »Aber lass die Finger von Aimée!«, fauchte sie ihm hinterher. Ein gurrendes Lachen antwortete ihr.
* * *
Sie hielt die Kerze umklammert. Mit aufrechten Schritten ging sie durch den langen Gang, der von ihrem Zimmer fortführte und in dem sie die Unterkünfte der übrigen Nonnen erwartete. Die flackernde Flamme malte Schatten auf den grob geschlagenen Stein. Schatten, aus denen sie befürchtete, dass ihr die Mutter Oberin entgegenkommen würde. »Reiß dich zusammen«, murmelte sie und erschrak darüber, wie laut ihre Stimme in der Stille der Nacht war.
Mal um Mal spähte sie durch die kleinen vergitterten Fenster, die in den Türen eingelassen waren. Dieser Ort erinnerte sie mehr an ein Gefängnis als ein Konvent. Aber war das nicht im Endeffekt das Gleiche?
Hinter keiner der Türen entdeckte sie Aimée. Bis sie schließlich die letzte Tür erreichte, ganz am Ende des Ganges, neben einer schmalen Wendeltreppe, die nach oben führte.
Erst war sie nicht sicher, dass die junge Frau, die darin auf dem Bett saß, vor und zurück wippte, tatsächlich Aimée war. Doch sie hatte das gleich lockige braune Haar, das ihr jetzt strähnig ins Gesicht fiel. Eine feine Stupsnase, von der jetzt der Rotz herablief. Große braune Augen, die jetzt schreckensstarr aufgerissen waren.
»Oh, Aimée, was hat sie dir angetan«, hauchte Julie. Es sollte nur ein Flüstern sein, aber es reichte aus, dass Aimée ruckartig den Kopf zur Tür wandte.
»Julie?« Ihre Stimme war ein raues Krächzen. Soweit entfernt von ihrem glockenhellen Sopran, dass es Julie die Nackenhaare aufstellte.
»Ja, meine liebste Aimée. Ich bin gekommen, dich zu befreien.«
Heftig schüttelte sie den Kopf. »Sie wird uns nicht gehen lassen. Niemals.« Schrill durchschnitt ihre Stimme die Stille.
Nervös blickte Julie sich um, aber nichts rührte sich. »Sei ruhig, Aimée. Ich hab einen Plan. Es wird alles gut werden.«
Aimée ließ den Kopf nach unten fallen. Er baumelte antriebslos zwischen ihren Schultern hin und her. »Sie ist ein Monster. Der Teufel in Menschengestalt.«
Das war die Mutter Oberin. Aber Julie wollte Aimée nicht weiter ängstigen. Also redete sie beruhigend auf sie ein, während sie mit dem kleinen Dolch an der Tür werkelte. »Wir schaffen das, niemand kann uns aufhalten.« Das Schloss knackte schließlich und sie stürzte in das Zimmer. Hastig zog sie Aimée, die leicht widerstrebte, in ihre Arme. »Niemand, hörst du, nicht einmal der Teufel.«
An der Hand führte sie Aimée aus ihrem Gefängnis, durch den Flur, bis zu ihrem eigenen Zimmer. Julie hatte gehofft, Aimée in einem besseren Zustand anzutreffen. Aber das Mädchen – ja, Mädchen war das einzig passende Wort jetzt! – war vollkommen verängstigt, zitterte und starrte nervös um sich.
Julie führte sie bis zum Bett, drückte sie nieder und blickte ihr ernst ins Gesicht. »Du bleibst jetzt hier, hörst du? Gleich was passiert, du rührst dich nicht vom Fleck, bis ich wieder da bin.«
Aimée nickte. In ihren Augen lag ein glasiger Schimmer. Sie zog die Knie an und schlang die Arme um sie.
»Dein Mädchen sieht nicht gut aus.« Jean trat aus dem Schatten. Seine Lippen waren jetzt rosig, die Wangen wie im Fieber gerötet. An seinem Mundwinkel rann ein Blutstropfen hinunter, den er galant mit einem Taschentuch abtupfte.
Ohne wirklich darüber nachzudenken und bevor sie sich versah, hatte sie ihren Degen gezogen, die Klinge an Jeans Kehle gepresst. Ein feiner Faden Blut lief herab. »Wage es nicht, sie anzufassen.«
Er lächelte schief. »Das hatte ich nicht vor.« Er setzte sich auf das Bett neben sie, wobei sie leicht zusammenzuckte, und schlug die Beine übereinander. »Ich bin satt, wie du siehst.«
»Wie viele Leichen werden sie morgen aus dem Konvent schaffen?«
Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Nur so viele, wie du hinterlässt, liebste Julie. Ich hab von jeder nur einen kleinen Schluck gekostet.« Er zog die Nase kraus. »Bis auf die Mutter Oberin. Das Biest überlass ich ganz dir.«
Einen Moment lang zögerte Julie. Aber was hatte sie schon zu verlieren? »Sollte ich bis zum Morgengrauen nicht zurück sein, dann verschwinde mit Aimée. Bring sie in Sicherheit, versprich mir das.«
»Du weißt, wie meine Art der Sicherheit aussieht.« Im nächsten Moment stand er hinter ihr, strich ihr mit den Fingern durchs Haar. »Aber ja, meine widerspenstige Geliebte, ich bringe sie in Sicherheit. Und du versuchst jetzt alles, dass es nicht nötig sein wird.«
Leicht schwindlig entzog sie sich seiner Berührung. Und ohne ein weiteres Wort, ohne einen Blick zurück trat sie in den Flur hinaus.
* * *
Angst war für Julie lange Zeit ein Fremdwort gewesen. Sie hatte in ihrem Leben Männer geliebt, die sie nicht lieben sollte. Sie hatte gekämpft, wie es sich für eine Frau ihres Standes nicht gehörte. Nie einen Hehl darum gemacht, wer oder was sie war. Sie hatte die Gefahren kennengelernt, die in den düsteren Schatten lagen, und war bis zum heutigen Tag ihren Verführungen nicht erlegen. Sie hatte in ihren jungen Jahren schon mehr Abenteuer erlebt, als manche in zehn Leben nicht.
Aber jetzt, als sie die Wendeltreppe langsam hinaufschritt, blubberte die Angst in ihren Adern, rauschte in ihren Ohren, raubte ihr fast den Verstand. Als sie begriffen hatte, was Jean war und einen Einblick in seine Welt erlangt hatte, hatte sie geglaubt, die dunkelste Ecke der Welt kennengelernt zu haben. Jetzt fühlte sie sich, als ob die Düsternis hinter der nächsten Türschwelle auf sie wartete.
Jean gefiel ihre Feststellung sicher. Dass das größte Monster, das schrecklichste Übel, das düsterste Wesen, das auf die Menschheit treffen konnte, der Mensch selbst war.
Je näher sie der Mutter Oberin kam, um so mehr wuchs in ihr das Verlangen, es schnell hinter sich zu bringen. Ein einfacher, flinker Stich mit ihrem Degen, dann wäre es vorbei.
Die Fantasien, es auszukosten, waren verflogen.
Aber sie wusste, wenn sie mit Aimée entkommen wollte, dann musste die Mutter Oberin sterben.
Nicht nur, dass sie eine Leiche brauchte, die sie als Aimée ausgeben konnte – die Mutter Oberin wusste, dass sie hier gewesen war. Und wenn ihr Plan aufgehen sollte, dann durfte niemand einen Verdacht schöpfen.
Sie sagte sich das immer wieder, während sie die Treppe hinauf ging. Es war unvermeidlich. Die Mutter Oberin hatte es verdient – wie viele andere mochte sie auf diese Art noch gequält haben?
Sie war eine Gefahr, es wäre richtig, versuchte Julie sich zu rechtfertige. Manchmal wünschte sie sich, sie hätte, wie Jean, kein Gewissen. Keine Skrupel, die sich unangenehm mit der fahlen Angst mischten, die aus ihren Erinnerungen gekrochen kam.
Jetzt war sie vorbereitet, jetzt hatte sie eine Waffe und die Mutter Oberin wäre ihr schutzlos ausgeliefert.
Jetzt brauchte sie Jean nicht, um sich zu retten.
Sie war am Kopf der Wendeltreppe angelangt, öffnete vorsichtig die Tür. Ein großer Raum eröffnete sich ihr, mit Kleidertruhen und einem Himmelbett.
Aber das Bett war leer.
* * *
Hektisch rannte Julie die Wendeltreppe wieder hinab. Aus der Richtung ihres Zimmers konnte sie schon ein leises Stöhnen hören. ›Jean!‹, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn er am Boden war, dann stand es schlecht um sie. Sie wollte es sich kaum eingestehen, aber ihn zur Sicherheit in ihrem Rücken zu wissen, das hatte sie doch beruhigt.
Es war ihr jetzt gleich, wenn ihre Schritte polterten, sie wollte nur zurück, so schnell sie konnte.
Als sie die Tür schließlich erreichte und aufriss, bewahrheiteten sich ihre schlimmsten Befürchtungen: Jean lag am Boden. Seine Haut glänzte rot, aufgerissen, voller Blasen, als wäre sie verbrannt. Aimée kauerte in einer Ecke, die Hände über den Kopf gehoben, um sich vor den Schlägen des Rohrstocks zu schützen.
Die Mutter Oberin stand über ihr, kein Laut drang über ihre Lippen.
Julie ballte die Hände zu Fäusten. Dann stürzte sie sich auf die Mutter Oberin, riss sie mit einem Ruck zu Boden.
Ein kehliges Lachen entwich deren Kehle. »Bist du gekommen, deine Freunde zu retten?« Sie drehte sich auf den Rücken, schlug Julie mit ihrem breiten Arm fort. »Deinem Vampir bekommt Weihwasser noch weniger als dir.«
Mit einer Geschwindigkeit, die Julie ihr nicht zugetraut hätte, war die Mutter Oberin über ihr und stieß nun ihrerseits Julie zu Boden. Ihren Unterarm presste sie an Julies Kehle, drückte ihr die Luft ab. Vor ihren Augen sah Julie kleine Sterne wie Feuerwerk explodieren.
Julie versuchte, an ihren Gürtel zu gelangen, ihren Degen zu ziehen. Doch die Mutter Oberin hielt ihre Hände in Schach. Keuchend blickte sie zu Aimée. »Lauf«, krächzte sie, »Verschwinde!«
Aber Aimée sah sie nur an, als würde sie fragen, wohin sie denn ohne Julie gehen solle. Und wenn Julie genauer darüber nachdachte, dann wusste sie das auch nicht. Für ein Mädchen wie Aimée alleine war diese Welt ein viel zu gefährlicher Ort. Und es war an Julie, sie zu beschützen. Das hatte sie versprochen und das würde sie tun.
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, spannte ihren ganzen Körper an. Und dann, mit einem letzten Kraftakt, schleuderte sie die Mutter Oberin von sich.
Diese stolperte zurück, stieß gegen die Wand, und blickte Julie verwundert an. »Wusste ich doch, dass du mit dem Teufel im Bunde bist!«
»Nein!« Julie zog ihren Degen. »Denn der einzige Teufel hier bist du.« Blitzschnell stürzte sie sich vorwärts und die Klinge versenkte sich in der Brust der Nonne.
Ein paar gurgelnde Laute brachte sie noch hervor, Blut trat über ihre Lippen, dann erlosch das Lebenslicht in ihren Augen.
Erleichtert eilte Julie zu Aimée, riss sie in ihre Arme. Aber ein Teil ihre Sorge galt Jean. Doch seine Wunden heilten schon, ganz langsam. Und ein Blick zum Fenster verriet ihr, dass noch Zeit war.
Genug Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
* * *
Vom Wald her betrachtete Julie, wie die Flammen an den Mauern des Konvents hinauf züngelten.
Sie hatten die Leiche der Mutter Oberin in Aimées Bett gelegt und das Zimmer mit Lampenöl getränkt, das Julie im Keller fand. Entzündet hatte sie es mit einer Schnur, die ihnen genug Zeit gab, zu entkommen.
Jean war immer noch angeschlagen, auch wenn er schon fast wieder normal aussah. Um Aimée machte Julie sich größere Sorgen. Ihre Augen wirkten leer. Selbst wenn Julie sie küsste, umarmte, blieb sie teilnahmslos. Irgendetwas in ihr war während ihrer Zeit im Konvent zerbrochen. Julie hoffte, dass sie es wieder reparieren konnte.
Jean trat neben sie, räusperte sich. »Wann bezahlst du mich für meine Hilfe?« Seine Stimme klang kratzig und schwach.
Julie lachte auf. »Nie. Schließlich hab ich dich nie darum gebeten.«
Er riss die Augen weit auf, packte sie an den Schultern. Seine Finger bohrten sich in ihre Haut.
»Ich hab dich nur hereingebeten. Geholfen hast du mir von dir aus, da kannst du doch nicht von mir verlangen, dass ich dafür bezahle.«
Wütend wandte Jean sich ab. »Ich werde wieder kommen. Ich gebe nicht auf.«
»Aber du wirst nie etwas ändern.«
Da war er schon verschwunden. Obwohl sie Aimée im Arm hielt, fühlte sie sich seltsam einsam.
* * *
Jean hielt sein Versprechen. Jeden Abend stand er an ihrem Fenster, in ihrem Garten, saß im Publikum, wenn sie auftrat – und jedes Mal wies sie ihn ab.
Aber er war auch die einzige Konstante in ihrem Leben.
Drei Monate verlebte sie mit Aimée, reiste mit ihr übers Land, bis sie in einem kleinen Dorf eine heimelige Zuflucht fanden. Aber Aimée war nicht mehr die Gleiche. Von dem, was geschehen war, erholte sie sich nicht. Und als Julies Trick erkannt wurde, Polizisten nach ihnen kamen, sie zu holen, da war es nur Julie, die für ihre Freiheit kämpfte.
Es brach ihr das Herz, doch sie ließ Aimée zurück und floh alleine nach Paris, wo die Oper auf sie wartete. Immer den Gedanken im Herzen, irgendwann zu Aimée zurückzukehren. Sie zu retten. Doch ihr Weg führte nicht mehr zurück an ihre Seite.
Ihr Leben führte sie von Paris nach Brüssel, von Brüssel nach Madrid und zurück in die Stadt der Liebe. Auch wenn jede Stadt – im Grunde – für sie eine Stadt der Liebe war. Sie brach mehr als ein Herz, mehr als sie an zwei Händen abzählen konnte, wenn sie es genau nahm.
Aber auch ihr eigenes Herz blieb nicht unbeschadet.
Es war wie Ironie des Schicksals, dass der einzige Ort, an den sie sich mit ihrem gebrochenen Herzen zurückziehen konnte, ein Konvent war. Und selbst dort begleitete Jean sie, bis ihr Ende nahte.
So wie ihr Leben einem Fieberrausch glich, war es jetzt ein Fieber, das an ihren letzten Kräften zehrte.
»Ich kann dir helfen«, flüsterte Jean, hielt ihre schweißnasse Hand, »Du weißt, dass ich dem ein Ende setzen kann.«
Julie quälte sich zu einem Lächeln. »Aber es sieht nicht danach aus, als bräuchte ich dich für das Ende.«
»Aber mein Ende wäre gleichzeitig ein Anfang.« Er beugte sich vor, küsste ihre Stirn. »Ich weiß, dein Herz ist gebrochen. Aber die Zeit heilt alle Wunden. Besonders wenn man sie im Überfluss hat.«
Ihr fiebriger Geist konnte seine Worte kaum erfassen. »Aber was du willst, ist doch mein Leben.«
»Natürlich.« Er bleckte die weißen Zähne. »Damit du im ewigen Tode diese Welt überdauerst. So wie ich.«
Dann war es nicht das Ende, sondern die Ewigkeit, die er ihr immer versprochen hatte. In dem Moment kam sie sich furchtbar naiv vor, dass sie es vorher nicht begriffen hatte. Nur eins musste sie von ihm wissen, bevor sie ihm zustimmen konnte. »Sag mir nur eines: warum ich? Warum von all den Frauen und Männern in Frankreich, nein, der ganzen Welt, warum hast du mich ausgewählt?«
Er beugte sich nah zu ihr, strich über ihre Wangen. »Als ich dich als Kind im Garten spielen sah, wusste ich vom ersten Moment an, dass du nicht hierher gehörst. Im Mondschein am Teich spieltest du, obwohl dein Vater es dir verboten hatte. Du warst ein Wildfang ganz und gar und durch nichts und niemanden hast du dich zähmen lassen. Gleich, wie sehr du damit angeeckt bist. Gleich, wie viele Menschen sich über dich das Maul zerrissen. Ich wusste, dass das hier nicht deine Zeit ist, dass du ihr voraus bist, um Jahrhunderte. Und ich wollte, dass du die Gelegenheit bekommst, eine Welt kennenzulernen, in die du hineingehörst. Dass du nicht in einer Zeit stirbst, die noch viel zu düster ist für das Licht, das in dir strahlt. Aber dazu zwingen wollte ich dich nicht. Denn das du mich hasst, dass würde ich nicht ertragen.«
Sie lachte. »Wie könnte ich dich jemals hassen?« Geschwind zog sie ihn am Kragen zu sich herab und küsste ihn. »Worauf wartest du noch? Ich will die Welt sehen, in die ich gehöre.«
Und dann gab er ihr den ewigen Kuss.