Geisteraugen

»Ach, von außen sieht es schon so gruselig aus!«, jauchzte Tante Rosie verzückt und klammerte sich mit aufgesetztem Entsetzen an Raphaels Oberarm fest.

»Tut es das?«, fragte er und versuchte den triefenden Sarkasmus aus seiner Stimme zu halten, was ihm jedoch kläglich misslang. Bei ihrer Ausflugsplanung hatte sie nicht wirklich einkalkuliert, dass »Sich ein Spukhaus ansehen« nicht ganz so spannend für jemanden ausfiel, der blind war. Zumindest konnte er sich auf ein deftiges Abendessen im Anschluss freuen.

Tante Rosie schnalzte mit der Zunge – was auch immer sie ihm damit mitteilen wollte – und zog ihn am Arm vorwärts. »Lass uns einfach mal schauen, äh, hören, was der Tourguide zu erzählen hat. Das wird sicher wahnsinnig interessant. Du magst doch Geistergeschichten.«

Raphael seufzte und folgte ihr. Von mögen konnte nicht die Rede sein. Geister waren sein Job – seit er vor 15 Jahren bei einem Unfall sein Augenlicht verloren hatte, waren sie alles, was er sehen konnte. Wehklagende Tote an jeder Ecke! Er hatte seine Gabe inzwischen zu seinem Beruf gemacht und stand der Polizei in allerlei Fällen beratend zur Seite – da musste er sie sich nicht noch in seiner Freizeit ansehen …

Allerdings hatte Patentante Rosie, die ihn nicht mehr gesehen hatte, seit sie vor 13 Jahren nach Spanien ausgewandert war, diesen Tag lang und breit geplant, um die verlorene Zeit aufzuholen. Deswegen war er brav mitgedackelt.

Dabei war Zeit das Einzige, was man nicht aufholen konnte. Und je mehr man verlor, desto unüberwindbarer wurden die Gräben, die sich zwischen den Menschen auftaten.

Jerun, der Hundesohn, hatte ihn sträflich im Stich gelassen mit der Ausflucht, dass er bei kostbarer Familienzeit nicht stören wollte. Wäre er dabei, würde Raphael sich nicht ganz so verloren fühlen.

»Willkommen im Haus Fühlingen!«, begrüßte sie eine helle, freundliche Frauenstimme, die von Absatzgeklacker begleitet wurde, »Mein Name ist Muriel Geist.«

»Geist?«, sagte Tante Rosie nach Luft schnappend, »Heißen Sie tatsächlich so?«

Sie lachte. »Ja – und vielleicht hat es mir ein bisschen geholfen, diese Stelle zu bekommen. Wie darf ich Sie nennen?«

»Rosie Engel und das ist mein Neffe, Raphael.« In der Art, wie sie sprach, klang es, als wäre er gerade neun.

»Freut mich. Ich führe sie am heutigen Tag durch das Gebäude und erzähle Ihnen von der Geschichte des Hauses. Sehen Sie …« Sie stockte. Vermutlich hatte sie jetzt erst bemerkt, dass Raphael einen Blindenstock in der Hand hielt und die Sonnenbrille nicht als modisches Accessoire trug.

»Lassen Sie sich nicht stören – ich höre Ihnen gerne zu und meine Tante sieht sich für mich mit um.« Er lächelte ihr zu und sie kicherte glockenhell.

»Einverstanden. Also, was wissen Sie schon über das Haus?«

»Außer, dass es hier spuken soll, nicht viel.«

Sie räusperte sich, um den Monolog abzuspulen, den sie wohl täglich Gruselfans und Geisterjägern erzählte. »Dieser Ort steht bereits seit Jahrhunderten unter einem schlechten Stern, lange, bevor das Gutshaus errichtet wurde. Am 5. Juni 1288 trug sich auf der Fühlinger Heide eine blutige Ritterschlacht zu, bei der über Tausend Krieger ihr Leben ließen. Vom Pferdegetrampel wurden sie bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet und wir stehen hier auf dem Massengrab dieser anonymen Krieger.«

Tante Rosie schnappte abermals nach Luft, und Raphael war überzeugt, dass er das heute öfters hören würde. »Ja, sapperlot, was für ein Blutbad!«, murmelte sie leise, und ein leichte Zittern ging durch ihren Körper.

»Die Geschichte des Hauses beginnt 1884, als Eduard Freiherr von Oppenheim 186 Morgen der Fühlinger Heide erwirbt und darauf dieses Gutshaus errichten ließ. Folgen Sie mir.«

Sie setzten sich wieder in Bewegung, und Raphael folgte der führenden Hand seiner Tante.

Während die den Weg zum Haus hinaufgingen und die ersten Eingangstreppen erklommen, fuhr Muriel in ihren Ausführungen fort. »1907 war Oppenheim jedoch gezwungen, das Gutshaus zu verkaufen. Später, unter dem Naziregime, wurde es zweckentfremdet und als Schlaflager für Zwangsarbeiter genutzt.«

Das überraschte Raphael nicht. Viele der heute bekannten Spukorte waren einstmals von den Nazis für ihre grausamen Zwecke missbraucht worden, sodass sich genug Futter für Legendenbildung fand. Der ein oder andere Geist, der sich wahrhaftig nicht von seinem Dasein auf Erden lossagen konnte, war als Echo in der Realität verhaftet.

»Am 15. Januar 1943 ließ der Gutsbesitzer den jungen Polen Edward M. von der Gestapo verhaften, weil er ihm ein Verhältnis zu seiner minderjährigen Tochter unterstellte. In einer nahegelegenen Ziegelei wurde er erhängt.«

»Furchtbar«, murmelte Tante Rosie leise.

»Er ist auch der erste Geist, der hier häufiger gesehen wurde. Er wandert ziellos durch den Garten des Anwesens.«

Unsinn – richtige Geister verließen die Stelle ihres Todes nicht. Raphael hatte es nie anders erlebt und seine Nachforschungen hatten ihm keine Hinweise darauf geliefert, dass es solche Spukerscheinungen tatsächlich gab und nicht einzig von Einbildung und Aberglauben herrührten. Trotzdem lächelte er freundlich und tat interessiert.

Unter vielen »Pass auf, wo du hintrittst« und »Vorsichtig!« seitens seiner Tante, navigierten sie durch das zugige, verlassene Haus. Muriel erzählte ihnen, wofür jeder Raum früher gedient hatte, beschrieb für Raphael, wie es heute aussah, aber das kümmerte ihn wenig.

Je höher sie stiegen, um so stärker spürte er die Anwesenheit des Todes. Hier war etwas Geschehen, und es hatte die alten Gemäuer nicht verlassen.

Als sie die Treppe zur zweiten Etage hinaufstiegen, stellten sich ihm die Nackenhaare auf.

Das blausilberne Seelenlicht blendete ihn für einen Moment, bis seine Augen sich daran gewöhnt hatten, wieder etwas zu sehen. Etwas, was aus der ständigen Finsternis, die ihn umgab, hervorstach.

Zwei Geisterkörper baumelten von der Decke, wenige Zentimeter voneinander entfernt. Zwei Männer, der eine älter und verhärmt, der andere jung und in der Blüte seiner Kraft. Jetzt hörte er wieder aufmerksamer zu, was Muriel zu erzählen hatte.

»Nach Kriegsende lebte hier Gerhard van K., ein ehemaliger NS-Richter, der nach dem Fall des Regimes als Amtsgerichtsrat tätig war. Aus ungeklärten Gründen beging er in der Silvesternacht 1962 Selbstmord, in dem er sich erhängte.«

Die ungeklärten Gründe waren vermutlich Schuldgefühle für die Sünden, die er in der NS-Zeit auf sich geladen hatte. Obgleich seine Taten oder Nicht-Taten keine rechtlichen Konsequenzen für ihn gehabt hatten, die Erinnerung holte einen immer ein.  So manches Mal holte sie einen gar zu sich.

»Fortan lebte seine Witwe Alice van K. alleine im Hauptgebäude. Die Nebengebäude wurden wenig später abgerissen und das Gutshaus die kommenden Jahre sich selbst überlassen. Alice lebte hier, bis sie im Jahr 2000 schließlich in einem Altersheim starb. Seitdem stand das Haus leer und war der Verwitterung und dem Vandalismus preisgegeben. Schnell verbreiteten sich die Geschichte von den Erscheinungen des Geistes des Richters und das Haus zog allerlei Besucher an. Jedoch nicht allein solche, die sich für einen Moment am Schauder erfreuen wollten: 2007 hat sich ein junger Mann in dem Gebäude erhängt. Auch er soll …«

»Lassen Sie mich raten«, unterbrach Raphael sie, ein süffisantes Lächeln auf den Lippen. »An der gleichen Stelle wie der Richter?«

Sie kicherte.

Tante Rosie drückte seinen Oberarm und flüsterte: »Na also, das gefällt dir hier.«

»Genau, so erzählt man sich«, fuhr Muriel fort. »Jetzt soll sein Geist ebenfalls in den Gemäuern spuken. Ein Investor wollte vor wenigen Jahren das Haus in Luxusunterkünfte umwandeln, hat seinen Plan jedoch schnell aufgegeben, ohne triftige Gründe zu nennen. Wenige Monate später hat die Firma GhostTravels das Haus gepachtet, die Erlaubnis für diese Touren eingeholt und hält es seitdem soweit in Stand, dass es nicht weiter zerfällt, aber …«

»Gleichzeitig seinen Charme als Geistervilla behält?«

»Exakt.« Einen Moment sagte niemand etwas. Raphael spürte den Luftzug, der durch das alte Gemäuer drang und einen modrigen Geruch mit sich trug – fast wie Verwesung. »Es ist schade«, fuhr sie schließlich fort, »dass Sie es nicht sehen können. Diesen bedrückenden, schauderhaften Anblick. Wie heruntergekommen hier alles ist.«

»Ich sehe es nicht. Ich spüre es.« Das tat er wirklich – und das hatte wenig mit den beiden Erscheinungen zu tun, die von der Decke baumelten. Man merkte einem Gebäude leicht an, ob es bewohnt oder eher gesagt belebt war. Tote, verlassene Räume strahlten eine kalte, diffuse Energie aus, dass sich einem die Nackenhaare aufstellten. Es wurde umso schlimmer, je länger sie leer standen. Ein Gebäude wie dieses hier jagte jedem Besucher einen Schauder über den Rücken, auch wenn er nicht zu der Sorte Mensch gehörte, die sich leicht gruselte.

Muriel räusperte sich – sie wusste wohl nicht, wie sie darauf antworten sollte. »Zum Abschluss der Tour will ich Sie durch den Garten führen – dort soll Edward erscheinen, wenn er sich auf die Suche nach seiner Liebsten macht. In letzter Zeit soll das öfters passieren. Vielleicht haben wir ja Glück!«

Sie stiegen die abgewetzten, rutschigen Treppen wieder hinab. Raphael tastete sich an der Wand entlang. Der Backstein war rau und kalt und rieselte unter der Berührung seiner Finger. Das gesamte Gebäude atmete den Verfall aus.

Als sie hinaustraten, spürte er die Sonne warm auf der Haut. Der Geruch von Blüten und Gräsern erfüllte die Luft. So viel warme, lebendige Energie, dass es sich anfühlte, als würde eine schwere Last von seinen Schultern fallen, als er über die Schwelle des Hauses trat.

Tante Rosie seufzte auf. »Wie furchtbar bedrückend es da drinnen war, fandest du nicht? Jetzt freu ich mich gleich doppelt auf meinen Leberkäs! Und die Herzoginkartoffeln! Und den leckeren Marillenlikör.«

Er musste auflachen. Vielleicht war dieser Tag mit ihr doch keine so schlechte Idee gewesen.

Sie folgten einem ausgetreten Weg, der sie in einen schattigeren Bereich des Gartens führte.

Tante Rosie bemerkte es, noch bevor es Raphael auffiel. »Huch, was ist es plötzlich kalt geworden. So einen großen Unterschied dürfte die Sonne auch wieder nicht machen. Ich atme ja sogar kleine Wölkchen!«

Schlagartig richteten sich Raphaels Nackenhaare auf – Kälte war immer ein Hinweis auf Geister. Trieb sich hier vielleicht doch ein Geist herum? Einer der gefallenen Ritter? Ein weiteres Opfer des NS-Regimes? Oder tatsächlich Edward?

Vor ihm, an einer Stelle, die in tiefste Dunkelheit getaucht war, flackerte es plötzlich grell auf. Ein, zwei, dreimal, bis es an Gestalt gewann.

Tante Rosie schrie spitz auf. »Ein Geist!«

Konnte sie es etwa auch sehen? Das konnte nicht …

Muriel schnappte ebenso nach Luft und murmelte auf Französisch vor sich hin: »Je vous salue, Marie pleine de grâce, le Seigneur est avec toi …«

Wenn sie genauso erschrocken war, war es nicht gestellt. Obwohl er ohnehin bezweifelte, dass man ihm so etwas vorspielen könnte.

Vor ihm stand ein junger Mann, vielleicht achtzehn, neunzehn Jahre alt, in schmutziger Arbeiterkleidung, mit Würgemalen an seinem Hals. Sein Blick wanderte, von Raphaels linken, wo Muriel und Tante Rosie standen, weiter nach rechts, bis sich ihre Blicke trafen. Er öffnete den Lippen, als wollte er etwas sagen. Kein einziger Ton kam hervor. Geister konnten nicht sprechen – selbst wenn, wäre es zweifelhaft gewesen, ob er Worte hervorbringen konnte: Sein Kehlkopf war zerschmettert. Der Geist hob den Arm und zeigte rechts hinter sich.

Dann versuchte er wieder, etwas zu sagen. Abermals ohne einen Ton hervorzubringen, schüttelte den Kopf und verschwand wieder mit einem Flackern.

»Mon dieu!«, stieß Muriel hervor und klang erschüttert. »Haben Sie das gesehen, Frau Engel?«

»Das habe ich. Das war nicht etwa wirklich ein … ein Geist?«

»Doch«, warf Raphael ein. »Ich habe ihn auch gesehen.«

Ein Moment des Schweigens legte sich über sie, bis Tante Rosie wieder nach Luft schnappte. »Ei der Daus, so etwas hätte ich jetzt nicht erwartet. Wer kann denn schon ahnen, dass es Geister wirklich gibt?«

»Das sollten wir uns näher ansehen.« Raphaels Neugier war geweckt. Das war nicht die Art Geist, die er kannte.

»Aber … aber sollten wir das nicht den, ich weiß auch nicht, Geisterjägern überlassen. Das ist eine Aufgabe für einen Profi, nicht?«

Raphael zögerte einen Moment, wägte die nächsten Worte ab, dann sagte er es einfach. »Tante Rosie, ich bin ein Profi.«

* * *

Nachdem Raphael ihr alles erzählt hatte, hatte Tante Rosie angefangen zu hyperventilierend. Jetzt saß sie auf einem Mäuerchen und atmete in eine Tüte. »Bert hätte mir wahrlich etwas davon erzählen sollen. Dass es kein Unsinn war. Nach dem Unfall dachten wir alle …«

Sie brach ab.

Sie hatten alle gedacht, er hätte den Verstand verloren, hätte Halluzinationen. Das hatte er ja selbst glauben wollen.

»Ich beschäftige mich seit Jahren intensiv mit der Materie. So ein Geist ist mir noch nie begegnet. In der Regel können sie nicht mit uns kommunizieren. Wir müssen herausfinden, was er uns sagen will.«

»Glauben Sie, es ist Edward?«, warf Muriel ein, die auf dem Mäuerchen neben Tante Rosie saß. Raphael konnte sie zwar nicht sehen, doch der Geruch der heißen Schokolade gemischt mit der blumigen Note ihres Parfums, der aus der Richtung zu ihm wehte, war unverwechselbar.

Das war eine Möglichkeit. Alle Indizien deuteten darauf hin. »Ich will nicht zu voreilig sein, aber ich glaube ja. Wissen Sie irgendetwas aus einer Vergangenheit, was uns helfen könnte?«

»Nichts, was uns helfen könnte – die Geschichte, dass er nach seiner Liebsten suche, hält sich hartnäckig. Sie eignet sich auch zu gut für traurige Geistergeschichten. Dabei hat die Tochter bis zu ihrem Tode abgestritten, dass sie eine Liebschaft unterhalten hatten. Sofern sie nicht gelogen hat, hätte er um ihretwillen keinen Grund, hier zu sein.«

Nicht um ihretwillen – doch vielleicht gab es jemand anderen, den er hier suchte. In vielen Legenden steckte zumindest ein Fünkchen Wahrheit. »Mehr weiß man nicht von ihm? Hatte er Familie? Freunde?«

Muriel verneinte. »Er war ein Zwangsarbeiter von hunderten – es ist schon ein Glück, dass wir aus den Papieren seinen Namen kennen.«

Raphael und Rosie seufzten unisono. »Was jetzt?«, fragte sie ihn. »Wollen wir nicht lieber …«

»Nein«, entgegnete Raphael. »Er will uns etwas sagen und ich weiß nicht, was passieren wird, wenn wir ihn einfach ignorieren. Bisher habe ich nicht an Geschichten von Poltergeistern geglaubt, weil sie mir in meiner Arbeit nie begegnet sind. Es gibt jedoch immer ein erstes Mal. Wenn er stark genug ist, sich kund zu tun, könne er überdies in der Lage sein, andere Dinge zu tun, wenn es ihm nicht gelingt, sich Gehör zu verschaffen. Wir müssen es zumindest versuchen.« Er unterbrach sich und dachte nach. Normalerweise stürzte er sich nicht alleine in Fälle – normalerweise war zumindest Jerun bei ihm. Vielleicht sollte er Hilfe anfordern, aber zum einen wusste er nicht sicher, ob es ein Fall war, und zum anderen war er nicht allein. Solange Muriel und Rosie ihn weiter unterstützten. Doch dazu zwingen konnte er sie nicht. »Du brauchst nicht mitkommen, Tante Rosie. Sie auch nicht, Muriel.«

Tante Rosie drückte seinen Oberarm so fest, dass sich ihre Fingernägel in seine Haut bohrten und er schmerzhaft das Gesicht verzog. »Da lass ich dich nicht allein hin.«

»Ich auch nicht«, pflichtete Muriel bei. »Ich muss die Wahrheit erfahren. Außerdem« Sie klang jetzt neckender. »Ich arbeite für GhostTravels. Was glauben Sie, was das wert ist, wenn ich mit meiner eigenen Geisterjagd aufwarten kann? Die kommenden Touren werden um einiges aufregender und weniger geschichtsträchtig werden.«

Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Dennoch spürte er, dass die Atmosphäre angespannt war.

* * *

Sie gingen den gleichen Weg entlang wie zuvor. Diesmal war jedoch keine Spur von Edward zu sehen. »Er hat nach rechts gezeigt. Was liegt dort?«

»Ein kleiner Schuppen«, antwortete Muriel. »Es heißt …« Sie stockte. »Zwangsarbeiter sollen dort ein Mitglied des Haushalts zu Tode geprügelt haben, nachdem sie sich befreien konnten. Die Aufzeichnungen sind verworren – im Krieg gab es so viel Tod und Verwüstung, dass es schwer war, genau herauszufinden, wer für den Tod verantwortlich war.«

Sie wandten sich Richtung Schuppen.

»Dort wurde nie von Geistersichtungen berichtet«, fügte sie nach einigen Schritten hinzu. »Die Geschichte war vermutlich nicht dramatisch genug.«

Kein Liebestod, kein Selbstmord – ein Unterdrücker, gegen den sich die Unterdrückten erhoben hatten. Ein Tod, der vielleicht Geschichte schrieb, aber keine reißerischen Geschichten.

Als sie den Schuppen erreichten, sah Raphael durch das eingeschlagene Fenster bereits den schwachen, blauen Lichtschimmer dringen.

Rosie und Muriel rührten sich nicht – offensichtlich sahen sie nichts.

Er löste sich von der Umklammerung seiner Tante und schritt auf das Fenster zu. Am Boden sah er einen gekrümmten, älteren Mann, zum Schutz die Hände um den Kopf geschlungen, während er von unsichtbaren Schlägen und Tritten zusammenzuckte. Das Bild zuckte plötzlich und der Mann stand, sah in Raphaels Richtung. Wollte er ihm etwas sagen?

Nein, der Kopf des Mannes schleuderte nach hinten. Silbernes Blut spritzte auf. Der erste Schlag, der den Mann getroffen hatte. Er taumelte zurück, wurde von etwas aufgefangen und nach links, nach rechts, dann nach vorne gestoßen, bevor er wieder am Boden lag.

Raphael wandte sich wieder ab. »Hier ist nichts.«

»Du bist blass«, merkte Tante Rosie an.

»Nichts, was mit Edward zu tun hat.«

Sie gingen weiter, am Schuppen vorbei, bis sie den Absperrzaun erreichten. Vor dem Zaun stand Edward, zeigte mit dem Arm nach links. Diesmal schrie niemand mehr, Rosie keuchte kurz auf, fing sich aber gleich wieder. »Dann weiter nach links!«, sagte sie resolut und griff Raphael wieder am Arm.

»Dort ist nichts, nur mehr Garten«, murmelte Muriel, während sie sich durch Gestrüpp kämpften.

Hier war mehr als ein Garten, begriff Raphael, noch bevor er Edwards Geist wieder sah. Das hier war ein Grab.

Edward flackerte wieder vor ihnen auf, stand reglos vor ihnen.

Durch den Boden unter Edwards Füßen drangen hellblaue Lichtstrahlen. Raphael kniete sich hin und grub mit den Fingern in der feuchten Erde »Helft mir – hier ist etwas.«

Sie mussten nicht tief graben, bis Tante Rosie aufschrie. »Knochen! Hier liegt ein Skelett begraben.«

Raphael sah auf. Das blaue Licht verfestigte sich und nahm die Gestalt einer jungen Frau in einer Hausmädchenuniform an. Rosie und Muriel schienen sie nicht zu sehen – am Rascheln erkannte er, dass sie weiterhin in der Erde gruben. Die junge Frau streckte die Hand nach Edward auf. Es leuchtete noch einmal hell auf, blendend hell.

»Er ist fort!«, schrie Muriel auf.

Sie hatte recht. Auch Raphael konnte Edward nicht mehr sehen. Sie hatten gefunden, wonach er all die Jahre gesucht hatte.

* * *

Es stellte sich heraus, dass die Leiche zu einer jungen Magd gehörte, die zu der Zeit auf dem Gutshof gearbeitet hatte, als Edward ermordet worden war. Kurz darauf war sie spurlos verschwunden – man hatte einige Zwangsarbeiter dafür verantwortlich gemacht, jedoch nie eine Leiche gefunden.

Der Obduktionsbericht ergab, dass sie vermutlich eine schwere Gehirnerschütterung erlitten hatte, die von einem Schlag auf den Hinterkopf herrührte. Er war allem Anschein nach nicht tödlich gewesen, deswegen nahm der Gerichtsmediziner an, dass sie lebendig begraben worden und in ihrem Grab erstickt war. Wer sie niedergeschlagen und dort verscharrt hatte, blieb jedoch ungewiss.

Sie musste es gewesen sein. Edwards Geliebte. War es damals ein Missverständnis gewesen? Hatte der Gutsherr sie mit seiner Tochter verwechselt – oder hatte er einen Vorwand gesucht, Edward aus anderen Gründen los zu werden?

Hatte sie versucht, das Missverständnis aus der Welt zu schaffen? War sie für Edward eingestanden und das ihr Verhängnis geworden? Hatte sie nach Gerechtigkeit gesucht und den Tod gefunden?

Das waren Antworten, die sie nicht mehr finden würde. Doch sie wussten zumindest, dass sie die beiden wiedervereint hatten. Wenngleich es alles andere als ein Happy End gewesen war.

Tante Rosie klopfte ihm auf die Schulter. »Das war ein Abenteuer – aber von nun an kannst du wieder alleine auf Geisterjagd gehen. Ich habe für ein Leben genug. Und jetzt, hach, jetzt brauch ich einen ordentlichen Schluck Marillenlikör!«

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