Der Preis der Unsterblichkeit

Justus Spiekermann hatte in seinem Job schon eine Menge schräge Geschichten gehört, aber die nahende Jahrtausendwende rief einen ganz anderen Schlag von Spinnern auf den Plan. Er lugte über die Akte hinweg zu dem mageren Mann, der sich ein paar weiße Haarsträhnen quer über den Kopf gekämmt hatte.

Ein harmloser alter Mann mit Anschuldigungen, die alles andere als harmlos waren.

»Das ist Ihr Ernst? Die UN hat uns Computerchips eingepflanzt, deren Beeinflussungsfunktion getriggert wird, sobald die Uhr in dem kleinen Teil Silvester von 1999 auf das Jahr 2000 umschaltet? Mit dem Ziel, eine neue kapitalistische Weltordnung einzuleiten und uns alle auszubeuten? Auf Initiative der Illuminaten, Freimauerer und des Weltjudentums? Hab ich das richtig zusammengefasst?«

Er nickte enthusiastisch.

Spieke konnte nicht an sich halten und verdrehte die Augen, was bei dem Mann zu einem erbosten Luftschnappen führte. »Sie sind Polizist, Sie müssen mir doch glauben!«

Er nickte einem jüngeren Kollegen zu, der den älteren Mann am Arm packte und wegführte. »Nein, zum Glück muss ich das nicht«, murmelte Spieke, lehnte sich für einen Moment zurück und ließ die Schultern kreisen und knacken.

Der Mann funkelte ihn bitter an. »Die anderen hatten vollkommen recht. Die Polizei ist doch nur eine Marionette des kapitalistischen …«

Spieke seufzte und war dankbar, als die Tür hinter dem Mann endlich zuschlug und ihm das Wort abschnitt. Es war noch ein Monat bis zum Jahrtausendwechsel. Eigentlich ein Monat und ein Jahr, aber die Verschwörungstheoretiker nahmen das nicht so genau. Wahrscheinlich würden sie in einem Jahr abermals auf der Matte stehen. Jeden Tag war das Präsidium mit Bürgern überfüllt, die ihre abstrusen Klagen an den Mann bringen wollten. Und sich weigerten, zu verschwinden, bevor sie sich Gehör verschafft hatten. Bert, der das Dezernat seit ewigen Zeiten gewissenhaft leitete, hatte angeordnet, sich erst mal allen Anfragen zu widmen, damit nichts wirklich Wichtiges unterging – oder sich jemand so missverstanden und provoziert fühlte, dass er etwas Ungebührliches tun würde.

Das war von dem alten Mann zum Glück nicht zu erwarten. Hoffte Spiele. Der Alte machte nicht den Eindruck, über die richtigen Mittel zu verfügen. Aber ausschließen …

Ein kurzes Klopfen ließ Spieke hochblicken. »Herein?«

Die Tür öffnete sich langsam. Der Mann, der eintrat, war hochgewachsen und ging auf eine fedrig leichte Art. Er schien im gleichen Alter wie Spieke zu sein, vielleicht aber auch schon Mitte vierzig. An der Schläfe und über den Ohren war sein rotblondes Haar leicht angegraut. »Entschuldigen Sie die Störung.« Er sprach mit einem leichten russischen Akzent. Seine Stimme war wohlig tief und der Klang löste ein sanftes Prickeln in Spiekes Nacken aus. »Mein Name ist Andrej Tarrasow.«

Spieke räusperte sich nach einer Pause, die viel zu lang schien. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann wippte auf den Zehenspitzen vor und zurück, knetete seinen Hut in den Händen. Sein Blick war fahrig. Es wirkte, als würden Wolken über seine braunen Augen hinwegziehen. Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es war ein Fehler, dass ich hergekommen bin. Ich glaube, Sie können mir nicht helfen.«

Er wandte sich schon zum Gehen, aber Spieke sprang auf, hastete um seinen Schreibtisch herum und hielt ihn am Oberarm zurück. »Herr Tarrasow, gleich, was es ist, Sie können mir vertrauen. Ich werde alles tun, um Ihnen zu helfen. Versprochen.«

Spieke wusste selbst nicht genau, warum er das sagte, warum er so viel versprach. Der Mann konnte genauso gut ein Verrückter wie die anderen sein und ihm gleich etwas von außerirdischen Kohlköpfen erzählen.

Aber als er sich mit angstgeweiteten Augen zu ihm umwandte, lag etwas Aufrichtiges in seinem Blick. »Sie werden mir nicht glauben. Und ich weiß selbst nicht, worin ich Sie hineinziehen könnte.« Er stieß hörbar Luft aus. »Deswegen kann ich keine Versprechen verlangen.«

Spieke machte einen Schritt zurück, brachte ein bisschen Abstand zwischen sich und sein Gegenüber, dann deutete er auf den freien Stuhl. »Ich bin ganz Ohr.«

Tarrasow kaute auf seiner Unterlippe, griff dann in seine Jackentasche und zog ein paar gefaltete Blätter Papier hervor. »Vor ein paar Tagen gab ein Freund mir diese Kopien.«

Spieke nahm die Papiere entgegen und faltete sie auseinander. Das auf den Zetteln sah aus wie ein Polizeibericht. Aber da er auf Englisch verfasst war, verstand er auf den ersten Blick nicht viel mehr, als dass er in Adelaide, Australien, im Jahre 1948 ausgefüllt worden war.

Andrej streckte die Hand nach den Blättern aus und zog ein Bestimmtes hervor. »Das hier sollten Sie sich ansehen – den Rest kann ich Ihnen dann erzählen. Ich hab den Bericht schon ein Dutzend Mal gelesen.« Zwischen den Kopien zog er ein Foto hervor. Ein schwarz-weißes Porträt von Andrej, auf dem er schlief.

Oder tot war.

»Das ist der Mann, der seit nun fast 51 Jahren als Somerton-Mann bekannt ist.« Andrej lacht leise. »Auch wenn ich bis vor ein paar Tagen noch nie von ihm gehört hatte. Er wurde am 1. Dezember 1948 tot an einem Strand in Australien gefunden, in Kleidung, die dem Wetter nicht angemessen war. Niemand wusste, wo er herkam oder wie er hieß. Warum er da war. Selbst bis heute nicht. Im Autopsiebericht steht, dass er vergiftet wurde.« Andrej hielt einen Moment inne und blickte Spieke starr in die Augen. »Und er ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten, finden Sie nicht auch?«

Spieke nickte langsam und musterte Andrej genauer. Der Schwung der Lippen, die kräftige Nase, die hohe Stirn und selbst die Wirbel der rotblonden Locken.

»Was man auf dem Foto nicht erkennen kann, aber dem Bericht entnehmen, ist, dass seine Zehen keilförmig zusammengedrückt waren. Eine Besonderheit, die auf einen Tänzer hindeuten können.« Andrej schloss die Augen. »Ich bin seit über 25 Jahren professioneller Ballerino.« Ein Schaudern ging durch seinen sehnigen Körper, das die breiten Schultern beben ließ. »Wäre es nur das Gesicht – aber ein so ungewöhnliches Detail?«

Spieke kratzte sich mit dem Daumen über das stoppelige Kinn. »Das ist in der Tat sehr ungewöhnlich, aber sagt man nicht, dass jeder einen Doppelgänger in dieser Welt hat? Warum glauben Sie, dass mehr als ein seltsamer Zufall dahintersteckt?«

Andrej wandte den Blick ab, schüttelte den Kopf, rieb sich mit langen Fingern über den Nacken. »Nur so ein Gefühl.«

»Ich würde mich gerne um den Fall kümmern, nur weiß ich nicht, wonach ich suchen soll.«

»Ich weiß. Deswegen wollte ich gehen. Was könnten Sie schon tun?« Er blickte auf das Foto des Somerton-Mannes. Mit der Fingerspitze fuhr er über die Wange des Toten. »Ich glaube, wenn etwas passiert, dann wird das bald sein.«

Spiekes Nackenhärchen stellten sich wieder auf. Nein, aufgeben konnte er nicht.

* * *

»Bert?«

Statt seines Vorgesetzten erhob sich ein schlaksiger Teenager hinter dem Schreibtisch. Sein braunes Haar lag ihm wild in der Stirn und eine dunkle Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Spieke hatte ihn lange nicht gesehen, aber er erkannte Raphael, Berts Enkel, sofort. Missmutig verzog Spieke den Mund. Die Wache war nicht der richtige Ort für einen Teenager. Erst recht nicht für einen wie Raphael. Aber vermutlich hatte Bert wieder einmal niemanden gefunden, der auf den Jungen aufpassen konnte.

Raphael hatte den Kopf so gedreht, als würde er eine Stelle schräg hinter Andrej anblicken, kräuselte die Stirn, zuckte dann aber mit den Schultern ohne etwas zu sagen. »Du willst zu Opa? Ich hol ihn.«

Der Junge bewegte sich, als hätte sein Körper jeden Winkel des Büros auswendig gelernt – was er sicher hatte – und als er nach seinem Blindenstock griff und ihn lässig vor sich ausstreckte, wusste Spieke, dass er sich nur dessen versicherte, dass ihm niemand im Weg stand.

Nachdem Raphael das Zimmer verlassen hatte, stieß Andrej einen Seufzer aus. »Er ist blind? Es schien mir, als hätte er auf etwas hinter mir gestarrt.«

Das hatte er. Eindeutig. Und das war kein gutes Zeichen. Nicht, wenn Spieke sich wirklich auf den Gedanken einlassen wollte, das hier etwas Übernatürliches am Werk war. Er leckte sich über die Lippen. »Raphaels Eltern starben bei einem Unfall, als er acht Jahre alt war. Bei dem Unglück ist er erblindet. Und seitdem …« Er grübelte über die richtigen Worte. Die Worte, die am wenigsten verrückt oder Angst einflößend klangen. Aber er fand sie nicht, also mussten andere es tun. »Er sieht Dinge. Er hat behauptet, die Geister seiner Eltern hätten sich von ihm verabschiedet. Manchmal hat er … Wesen gesehen, die hinter Menschen standen, die wenig später starben. Meistens waren es, wie er es nannte, Engel – manchmal aber auch Monster.« Spieke bemerkte, wie Andrej ungewöhnlich blass wurde, Halt suchend die Hände auf den Schreibtisch stützte. »Aber die Ärzte sagen, es ist vielleicht etwas Neurologisches. Oder dass er eine Therapie braucht. Das hat Raphael aber nur wütend gemacht und seit Jahren hat er nicht mehr darüber gesprochen. Auch wenn ich manchmal von Bert höre, dass …«

»Was hörst du von mir?« Sein Vorgesetzter tauchte hinter ihnen auf.

Raphael stand neben ihm, den Kopf schief gelegt wie ein Hund, der etwas Auffälliges gehört hatte.

Spieke legte einen Finger auf die Lippen, deutete auf Raphael.

Bert nickte knapp. »Raphael, lässt du uns kurz allein?«

Schmollend verzog Raphael den Mund, sein Blick wanderte wieder an die Stelle hinter Andrejs Rücken. Dann zuckte er mit den Schultern, wandte sich um und verschwand aus Spiekes Sichtfeld.

Spieke nickte zu Andrej. »Ich wollte es nicht vor dem Jungen sagen: Raphael hat anscheinend etwas hinter ihm gesehen. Aber auch wenn Andrejs Geschichte ziemlich verrückt ist, muss das ja nichts bedeuten.«

Ein dunkler Schatten schob sich über Berts Gesicht. Er schloss die Tür. »Setzt euch und erzählt mir, was passiert ist.«

Während Andrej unterstützt von Spieke die Geschichte ein weiteres Mal erzählte, massierte Bert seine Schläfen und seufzte schließlich. »Was ist es, dass Sie uns nicht erzählen, weil Sie glauben, dass es zu verrückt ist, als dass wir es jemals glauben würden? Verrückter, als dass ein Mann, der seit über 50 Jahren tot ist, ihr Gesicht trägt.«

Andrej riss die Augen weit auf, öffnete und schloss den Mund mehrmals, ehe er sich schließlich mit den Fingern durch die Haare fuhr, den Kopf auf seinen Händen abstützte und leise vor sich hin murmelte. So leise, dass Spieke ihn nicht verstand. Zaghaft streckte er die Hand nach ihm aus, berührte ihn an der Schulter. Als Andrej zu ihm aufsah, nickte er ihm aufmunternd zu.

»Wenn Sie so fragen, vielleicht liegt der Anfang dieser Geschichte schon weitaus länger zurück, als ich vermutet hatte.« Er schwieg für einen Augenblick, sah zum Fenster hinaus und seine Augen waren in die Ferne gerichtet »Ich habe Jahre, Jahrzehnte nicht daran gedacht, aber in den letzten Wochen und Monaten flackerte die Erinnerung immer öfter auf. Auch wenn ich sie immer noch nicht glauben wollte. Nicht, dass es mehr war als ein … Streich, den meine Sinne mir gespielt hatten, als ich noch ein Halbwüchsiger war.« Andrej stockte kurz und begann dann erneut: »Mit 17 versuchte ich alles, um besser als die anderen zu werden, aber ich blieb doch hinter ihnen zurück. Plötzlich überkam mich diese seltsame Angst, dass ich es niemals schaffen würde, meine Träume zu erfüllen und der beste Solotänzer aller Zeiten zu werden. Ich sah mir die alten, vergilbten Poster von den Ballets Russes an, die an den Wänden meines Zimmers klebten. Ich träumte davon, die Grazie und Wandlungsfähigkeit von Vaslav Nijinsky zu erreichen. Ich versuchte, seine Sprungtechnik nachzuahmen. So zu schweben, wie nur er es gekonnt hatte. Aber gleich wie oft ich es übte, ich konnte es nicht. Ich war nicht so virtuos, so leichtfüßig. Und daran verzweifelte ich mit jedem Tag mehr. Bis zu dem einen Tag, als ein Junge aus meinem Jahrgang an meiner statt zum Solotänzer in meiner Kompanie ernannt wurde und es mir zu viel wurde. Das war mein Lebenstraum, verstehen Sie? Ich hatte soviel Herzblut hineingegossen.« Er hielt einen Moment inne. »Nach dem Training kletterte ich aus einem der Fenster der Oper, hielt mich zittrig an der Brüstung fest und wollte ein letztes Mal versuchen, zu fliegen. Das Ballett war alles, was mir wichtig war, und wenn ich nicht gut genug sein konnte, um Solotänzer zu werden, vor allen anderen, dann war ich nicht gut genug, weiter zu leben. Es ist verrückt, so etwas zu denken, aber ich war ein dummer Junge, der nur in seinen Träumen lebte und bei der Aussicht, sie könnten endgültig zerplatzen, zu theatralischen Reaktionen neigte. So stand ich auf der Brüstung, blickte in die Dunkelheit der aufziehenden Nacht und zitterte wie Espenlaub. Ich wollte nicht wirklich springen, tief in meinem Inneren, aber da war der dumme Junge, der ein Zeichen setzen wollte. Und diese beiden Seiten in mir kämpften noch, als ich ein kehliges Lachen neben mir hörte. Ich blickte zur Seite, wo ein junger Mann saß, vielleicht ein paar Jahre älter als ich, mit schwarzem, langen Haar, das er mit Pomade zurückgekämmt hatte. Er lächelte mich neckisch an. Wenn du springen willst, spring. Aber wenn du leben willst, dann hab ich vielleicht einen Handel für dich.

Einen Handel?, fragte ich stirnrunzelnd.

Oder sagen wir, einen Pakt? Ein Versprechen?

Ich verstand immer noch nicht. Er streckte einen Arm aus und deutete über die ganze Stadt. Du willst dein Leben wegwerfen, weil du in einer kleinen Provinz-Kompanie nicht die Nummer Eins sein kannst? Ich wollte protestieren, aber er legte mir einen Finger auf die Lippen. Aber was, wenn ich dir sage, dass du die Welt haben kannst? Für ein Vierteljahrhundert wirst du der hellste Stern am Balletthimmel sein.

Ach, werde ich das?

Der Mann nickte. Wenn du daran glaubst.

Einfach so? Warum hab ich nur nicht früher dran geglaubt? Meine Stimme troff vor Sarkasmus. Glauben und Träumen war doch bisher alles, was ich getan hatte.

Gut, du musst etwas mehr als nur glauben. Du musst mir etwas versprechen. Er nahm meine Hand. Würdest du deine Seele dafür geben, der Beste zu sein? Der große Stern? Ein Tänzer, der deinem Nijinsky in nichts nachsteht?

Ich lachte. Was für eine Frage war das? Als wäre es so einfach. Aber ich sagte: Natürlich würde ich meine Seele dafür verkaufen, wenn ich der Beste sein könnte. Wie könnte ich das nicht?

Weil es dich das ewige Leben kostet?

Aber nein! Wenn ich der Beste bin, dann bin ich auf diese Art unsterblich. Denn dann werden andere noch in Jahrzehnten, Jahrhunderten meinen Namen kennen. Mein Werk wird unvergessen sein. Ein ewigeres Leben gibt es doch nicht.

Er schmunzelte über meinen plötzlichen Enthusiasmus. Dann haben wir einen Pakt?

Ich lachte. Was für ein komischer Kauz! Aber ich drückte seine Hand und nickte. Den haben wir.

Danach war er fort. Einfach weg, als hätte ich mir seine Gegenwart nur eingebildet. Ich saß auf der Brüstung, allein, verwirrt, aber plötzlich wollte ich nicht mehr springen.

Am nächsten Tag hörte ich, dass einer der ersten Solotänzer sich den Fuß gebrochen hatte. Und statt einfach nur aus den anderen Solotänzern und Demi-Solotänzern auszuwählen, ließ der Intendant die ganze Kompanie vortanzen. Und ich war es, der am 1. Dezember 1974 zum neuen ersten Solotänzer ernannt wurde, nachdem ich den Tanz meines Lebens getanzt hatte. Ich war einen Moment lang, für einen winzigen Augenblick in der Luft geschwebt, wie es nur Nijinsky gekonnt hatte. Und ich verstand selbst nicht, wie das hatte möglich sein können. Wie ich über Nacht so viel besser hatte werden können. Aber ich stellte es nicht mehr infrage. Nicht bis vor ein paar Monaten, als mir immer deutlicher klar wurde, dass die meisten in meinem Alter längst mit diversen Leiden ihre Karriere beendet hatten. Und ich selbst, nach fast 25 Jahren auf den Bühnen der Welt, mich noch so jung wie ein Siebzehnjähriger fühlte. Und dann sah ich ihn wieder. Den dunkelhaarigen Mann. Sein Grinsen begegnete mir in Reflexionen in Schaufenstern, Glastüren und Spiegeln in der Oper. Schließlich hörte ich zu tanzen auf, weil ich fürchtete, es würde mich in den Wahnsinn treiben. Ich hoffte, wenn ich in den Ruhestand ging, dann würde er verschwinden. Ich hatte mein Vierteljahrhundert als strahlender Stern hinter mir, aber war noch nicht bereit, den Preis dafür zu bezahlen.« Einen Moment schwieg Andrej, blickte hinab auf seine gefalteten Finger. »Und er verschwand. Doch stattdessen hatte ich eines Morgens den Umschlag mit den Kopien in meinem Flur liegen. Jemand musste ihn unter der Tür hindurchgeschoben haben, auch wenn er dafür eigentlich zu dick war.«

Spieke riss die Augen auf. »Dann kam er nicht von einem Freund?«

Andrej schüttelte den Kopf. »Ich weiß, nicht wer mir diese Nachricht geschickt hat, und warum. Aber ich glaube, sie hat mit dem dunkelhaarigen Mann zu tun.«

Berts Faust donnerte plötzlich auf den Tisch. »Belial!«

»Belial?«, fragten Spieke und Andrej wie aus einem Mund.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wer es sonst gewesen sein sollte. Dieser verdammte Dämon.«

Spieke wurde übel, als ihm klar wurde, dass Bert das Wort Dämon vermutlich nicht nur figurativ benutzt hatte.

»Ich übernehme den Fall – du solltest in die Sache nicht weiter reingezogen werden.«

Wollte Bert ihn abschieben? Das konnte er nicht zulassen. Andrej war sein Fall. »Ich stecke schon viel zu tief in der Sache, das weißt du.«

»Findest du?« Berts Stimme war schärfer als gewöhnlich. Er zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn herausfordernd an. »Und wie kommst du darauf?«

»Nach dem, was ich gerade gehört habe? Denkst du, dass kann ich einfach wieder vergessen und so tun, als wäre heute nichts passiert? Den ganzen Tag habe ich Leute weggeschickt, die mir weitaus weniger verrückte Geschichten aufgetischt haben. Jetzt will ich auch die ganze Wahrheit erfahren.«

Bert seufzte. »Recht hast du. Und irgendwann wirst du ohnehin in meine Fußstapfen treten.« Er schob ihm eine Visitenkarte zu. »Er wird dir vielleicht helfen können. Mit diesem Belial hat er schon so seine Erfahrungen gemacht. Als ich von Erik die Sache mit seinem Sohn gehört habe, ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen. Mit Belial ist nicht zu spaßen.«

Spieke blickte auf die Karte. Schlicht in Weiß, nur ein Name: Erik Rasmussen. Daneben eine Telefonnummer.

Bevor er gemeinsam mit Andrej das Zimmer verließ, wandte er sich noch einmal zu Bert. »Dann sind die Dinge, die Raphael sieht …«

Bert schüttelte abrupt den Kopf. »Es ist besser, wenn er nicht an die Dinge glaubt, die er sieht. Zu seinem eigenen Schutz. Er darf nie davon erfahren.«

Gott, in welche Sache war Spieke jetzt nur hineingeraten?

* * *

Er hatte den Mann angerufen, ihre Situation kurz geschildert, und als der Name Belial gefallen war, hatte der Mann ihnen einen Treffpunkt genannt. Den Parkplatz einer verlassenen Lagerhalle.

Andrej saß ruhig auf dem Rücksitz, blickte über die karge Industrielandschaft, während er mit zittrigen Fingern an seiner Zigarette zog.

Spieke hätte ihn gerne in den Arm genommen – wäre es der Situation und ihrer Beziehung angemessen gewesen. Stattdessen blickte er wieder und wieder auf seine Armbanduhr, während hinter ihnen die Sonne langsam hinter den Horizont sank.

Schließlich fuhr ein verbeulter, hellblauer Fiat 1500 auf den Parkplatz – nicht die Art Wagen, die Spieke erwartet hätte. Und der Mann, der ausstieg, entsprach ebenfalls nicht seinen Erwartungen. Ein Mann, Ende vierzig oder Anfang fünfzig, dunkle buschige Augenbrauen und ein Bart, durch den sich bereits das Grau zog. Er trug einen dunkelblauen Schlapphut, verwaschene Jeans und eine beige Jacke. 

»Entschuldigt die Verspätung!«, rief er ihnen mit kratziger Stimme zu.

Auf dem Rücksitz des Wagens saß ein Junge, der gebannt auf seinen Gameboy starrte. Er sah nicht einmal auf, als Erik ihm noch irgendetwas zuraunte, sondern nickte nur knapp.

Als Erik auf sie zukam, verdrehte er die Augen. »Eben wollte er noch unbedingt dabei sein, aber dann hat er ein Muh oder so gefangen. Und jetzt will er das Ding nicht mehr ausmachen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber besser so. Es könnte gefährlich werden.« Er reichte Spieke und Andrej die Hand. »Ihr habt Probleme mit Belial? Mein Beileid.«

Noch einmal legte Andrej seine Geschichte dar – jetzt, wo er sie ein zweites Mal erzählte, bemerkte Spieke das Beben seiner Unterlippe und das Zittern seiner Schultern. Er stand Todesängste aus – und Spieke selbst konnte nichts für ihn tun. Gar nichts.

Als Andrej geendet hatte, schwieg Erik, rieb sich dann mit der Hand über das Gesicht.

»Und jetzt?«, fragte Spieke, als ihm das Schweigen unerträglich wurde.

Erik blickte ernst von Andrej zu Spieke und zurück. »Wir können versuchen, mit ihm zu reden. Er ist ein launisches Kind. Vielleicht lässt er ihn frei.«

»Und dafür tun wir was? Ihn anrufen?«

Erik ging zum Kofferraum, klappte ihn auf und holte einen Lederbeutel heraus. »So ungefähr.«

* * *

Eine halbe Stunde später hatte Erik inmitten der Lagerhalle mit Kreide und dunklem Öl Kreise und Muster auf den Boden gemalt. Er zog eine Streichholzschachtel aus seiner Hosentasche. »Gleich geht es los.«

»Worauf sollen wir uns gefasst machen?« Andrejs Stimme zitterte und er tastete nach Spiekes Hand. Sein Griff war feucht und kühl. Spieke drückte seine Hand und spürte, wie Andrej sich leicht entspannte.

Erik spuckte aus. »Auf einen gelackten Burschen, dem das Grinsen in seinem Gesicht festgefroren ist.« Er entzündete das Streichholz und ließ es in das Öl fallen. Flammen züngelten, fast bis zur Decke, bevor sie mit einem Knall herabschlugen und dann nur noch kniehoch flackerten.

Im Kreis stand jetzt ein dunkel gekleideter Mann, mit fahler Haut und schwarzem, langem und glattem Haar. Ein neckisches Lächeln lag auf seinen Lippen. »Erik? Wie hab ich mir diese Ehre verdient? Bist du sonst nicht eher froh, wenn ich deinen Weg nicht kreuze?«

Erik nickte in Andrejs Richtung. »Erinnerst du dich an ihn?«

Belial lachte. »Ob ich mich erinnere? Er ist mein Meisterwerk und bald kann ich es vollenden.« Er rieb seine Hände aneinander. »Mein altes Ich wartet am Ende des Zeitentors schon sehnsüchtig darauf, dich in die Finger zu bekommen. Oder eher deine Leiche.«

»Löse den Handel!«, schleuderte Spieke ihm entgegen.

Belial lachte auf. »Wer bist du denn, Kleiner? Es ist ein rechtmäßige geschlossener Pakt – vielleicht war er sich damals der wahren Konsequenzen nicht bewusst. Aber seine Folgen zu Lebzeiten hat er doch zu gerne ausgekostet. Da hat er jetzt kein Recht, sich zu beklagen. Ich habe geliefert, was er wollte. Jetzt muss er nur seinen Anteil leisten.«

Spieke wollte nach vorne stürzen, aber Erik hielt ihn zurück. Er schüttelte leicht den Kopf. »Schon klar, Pakt ist Pakt. Aber warum diesen Aufwand betreiben? Es kostet dich sicher viel Energie, ein Tor in die Vergangenheit zu öffnen. Und es ist bestimmt heikel, dabei keinen Fehler zu machen.«

Belial zuckte mit den Schultern. »Weil ich es kann? Und weil ich Herausforderungen liebe?«

Spieke spürte bei diesem arroganten Gehabe, wie Wut in ihm aufflammte. Er griff nach seiner Waffe. »Wag es nicht.«

Belial lachte. »Aber es ist doch schon geschehen! Seht euch nur die Fotos an, die Berichte! Die Vergangenheit kann ich doch nicht mehr ändern. Ich habe eine Legende erschaffen. So viele kleine, absonderliche Details.« Er zog ein dünnes Gedichtbändchen aus seiner Brusttasche, kritzelte mit einem Stift kichernd auf die Rückseite des Bucheinbandes, blätterte dann darin und riss scheinbar wahllos eine Seite heraus. Dann warf er alles mit einem Lachen hoch und es verschwand in einer grauen Wolke. Belial hauchte dagegen, der Rauch umfing Andrej. Als er wieder verflog, trug Andrej einen fein geschnittenen Anzug. Ängstlich wich er ein paar Schritte zurück, sah an sich herab und schüttelte sich.

»Gefällt dir mein Geschenk? Ein teuerer amerikanischer Anzug aus dem Jahr 1948. Ist er nicht ein vortreffliches Leichentuch?« Mit einem breiten Grinsen schüttelte er den Kopf. »Wie könnte ich das jetzt noch aus dem Gedächtnis der Welt tilgen?« Er grinste verschlagen und wandte seinen Blick Erik zu. »Aber vielleicht könnte ich mich auf einen anderen Pakt einlassen.«

Spieke spürte, wie eine Welle der Erleichterung durch seinen Körper fuhr. Es gab eine Möglichkeit. Es gab Hoffnung. Aber Erik war weiterhin angespannt. Die Züge um seinen Mund hart.

»Ich lasse Andrej frei, wenn du mir das zurückgibst, was du mir gestohlen hast. Ich spüre, dass er hier ist, von deinen schwächlichen Bannzaubern geschützt.«

Eriks Gesicht verfinsterte sich weiter, er blickte zu Andrej. Dann senkte er seine Stimme, als er zu den beiden sprach. »Er spricht von dem Jungen, den ich dabei habe. Seinem Sohn.« Erik schüttelte den Kopf. »Nikolaj hat das Telefongespräch mit angehört und wollte unbedingt mitkommen, als er begriff, dass es um seinen Vater ging. Ich bin immer zu sanft zu ihm. Ich hätte ihm seinen Willen nicht lassen dürfen. Aber Leichtsinn hat seinen Preis.«

Andrej blickte auf seine Füße, wandte sich dann an Belial und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will nicht, dass der Junge für mich geopfert wird.« Er warf Spieke einen wehmütigen Blick zu. »Danke, dass du alles für mich versucht hast.«

Spieke schmeckte bittere Galle. »Aber das geht doch nicht. Nicht jetzt. Wir können doch nicht …«

Belial fuhr sich durch das lange schwarze Haar. »Ihr könnt mich nicht lange aufhalten. Das weiß Erik ganz genau. Dieser Bannkreis wird mich noch bis Mitternacht gefangen halten. Und danach werde ich kommen und ihn holen. Ihn oder Nikolaj, wenn ihr zu einem Handel bereit seid.«

Spieke dachte an den Jungen, der gedankenverloren auf Eriks Rücksitz saß und mit dem Gameboy daddelte. Es ging hier um das Wohlergehen eines unschuldigen Kindes. Doch das änderte nichts an dem, was er gerade fühlte. Denn es ging auch um Andrej. »Ja«, platzte er hervor.

»Nein«, warfen Andrej und Erik wie aus einem Mund ein.

Erik warf Spieke einen finsteren Blick zu, wandte sich dann wieder an Belial. »Er hat kein Recht, Handel über Nikolaj abzuschließen. Genauso wenig, wie ich, denn das könnte nur der Junge selbst. Aber nur über meine Leiche.«

Belial fauchte und entblößte spitze Eckzähne, sein Schatten wuchs, Hörner ragten aus seinem Kopf. »Das kannst du haben, alter Mann, eines Tages. Ich bin unsterblich, ich habe Zeit.« Er schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Ganz im Gegensatz zu eurem Andrej.«

Andrej drehte sich um, packte Spieke am Ärmel. »Lass uns gehen.«

»Aber aufgeben?«

Andrej schloss die Augen. »Ich hatte das Leben, von dem ich immer träumte. Und habe ich nicht sogar mehr? Ich werde unter meinem Namen als großer Künstler am Balletthimmel unvergessen bleiben. Und als Somerton-Mann werde ich der Welt ewig Rätsel aufgeben. Wer kann von sich schon behaupten, doppelt zum Mythos zu werden? Könnte ich mir mehr wünschen?« Auf seinen Lippen lag ein unbestimmtes Lächeln. Melancholisch, traurig oder einfach verzweifelt.

Mehr. Spieke konnte sich so viel mehr vorstellen. Dinge, die nicht mehr geschehen würden. Er griff nach der zitternden Hand und ließ sie erst los, als Belial sie ihm entriss.

%d Bloggern gefällt das: