Das Schutzengelhaus

Das Mädchen sah aus, als würde es nur schlafen.

Sie lag im Flur, auf dem Fußboden, die Hände über der Brust gefaltet und die Augen geschlossen. Ihre blasse Haut wirkte gelblich im Mondlicht, welches durch das eingeschlagene Fenster in das alte Gebäude drang.

Die beiden Jungen standen um sie herum, starrten erst sie, dann sich gegenseitig an. »Glaubst du …«, flüsterte einer von ihnen und trat von einem Fuß auf den anderen. Er zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, obwohl es eine laue Sommernacht war.

Der andere machte einen Schritt auf das Mädchen zu, stieß sie mit der Schuhspitze an. »He du!«

Er hinterließ schlammige Spuren auf ihrem T-Shirt, aber sie rührte sich nicht.

»Wir hätten nicht hierher kommen sollen«, flüsterte der erste wieder, obwohl sie vollkommen allein auf dem großen Grundstück waren. Oder sein sollten. Sein Blick wanderte zurück zu dem Fenster, aus dem sie mit einem Brecheisen, dass sie aus der Werkstatt des Vaters gestohlen hatten, die Bretter herausgebrochen hatten, mit denen man es vernagelt hatte, und durch das sie dann in das alte Schutzengelhaus geklettert waren.

Sie hatten Geschichten über diesen Ort gehört. Über die schrecklichen Verbrechen, die im Krieg hier geschehen waren, und ihre Neugier hatte sie angestachelt, einzudringen und sich hier umzusehen. In der grausigen Erwartung, einem Geist zu begegnen, der sein schreckliches Leid beklagte. Der Gedanke hatte sie in eine kindliche Euphorie versetzt. Jetzt jedoch war die Euphorie verpufft.

Sie hatten keinen Geist gefunden, sondern eine Leiche.

»Wir sollten verschwinden«, stammelte der zweite. »Bevor …«

Er beendete den Satz nicht mehr, weil etwas Kaltes seinen Nacken berührte. Kühl und feucht und mit dem Geruch von Schwefel. Er schrie und stürzte zum Fenster, drehte sich noch einmal zurück zu seinem Freund.

Der Freund stand dort allein, starrte etwas in der Dunkelheit an, etwas, was so dunkel war, dass es jedes Licht verschlang.

Sein Freund hatte die Augen weit aufgerissen, den Mund zu einem Schrei verzerrt, aber er rührte sich nicht.

»Komm«, schrie er ihm vom Fenster zu.

Doch sein Freund stand wie versteinert. In panischer Angst stürzte er alleine aus dem Fenster und verschwand in der Dunkelheit des Waldes, der die alte Kinderfachabteilung Waldniel umgab.

Nach sechzig Jahren hatte sie wieder das Leben zweier Kinder verschlungen.

* * *

Erik Rasmussen blickte hinab auf die Tatortfotos, die ihm sein Kontakt bei der lokalen Kripo zugeschoben hatte. Ein Mädchen, vielleicht sechzehn, und ein Junge, der höchstens zwölf war, lagen nebeneinander am Boden, die Augen geschlossen, das Gesicht ausdruckslos und die Hände über der Brust gefaltet.

Der näselnde Mann, dessen Name Erik sich nie merken konnte, nahm die Brille ab und massierte die Nasenwurzel. »Die Bevölkerung macht uns die Hölle heiß, weil wir keine Antworten für sie haben. Deswegen hoffe ich, dass Sie mir etwas sagen können.«

»Woran sind sie gestorben?«

Der Mann seufzte. »Vor Angst. Sie haben sich im wahrsten Sinne zu Tode erschreckt.«

Vielleicht war es ein Nachtmahr. Aber dafür sahen sie zu friedlich aus. »Wer hat sie so hingelegt?«

»Wenn wir das wüssten. Der Freund des Jungen, unser einziger Zeuge, sagt, dass ihn etwas im Nacken berührt hat und er dann schreiend weggelaufen ist. Ich glaube, da ist etwas, was er uns nicht sagt – aber nein, ich glaube nicht, dass er sie umgebracht hat. Sie hätten das Kind sehen müssen.«

Erik nickte, packte die Akte in seinen Aktenkoffer. »Ich werde mir die Sache ansehen.«

Und eine Antwort finden.

* * *

Nikolaj knallte die Tür des verbeulten, hellblauen Fiat 1500 hinter sich zu und blickte auf das imposante Anstaltsgebäude vor ihm. Mit seiner schmutzig-braunen Fassade und den dutzenden zerschlagenen Fenstern, die ihn wie hungrige Augen ansahen, wirkte es, als wäre es einem Albtraum entsprungen. Auf dem Weg hatte Nikolaj einige Informationen über das Haus gelesen, die der vertrocknete Herr Hubert aus dem Archiv zusammengesucht hatte. Mehr als einmal hatten sich ihm die Nackenhaare bei dem Gedanken aufgestellt, was sich hier zugetragen hatte.

»Das Kind ist nicht abrichtfähig.«

Dieser Satz ließ ihn nicht los und löste eine Übelkeit tief in seinem Magen aus. Was wäre mit ihm geschehen, wenn es ihn in eine solche Einrichtung verschlagen hätte? Hätten sie erkannt, was mit ihm nicht stimmte und ihn ebenfalls als nicht abrichtfähig klassifiziert?

Er schauderte und drängte die Vorstellung zurück.

Gleich, wie grauenhaft das alles war, konnte er dennoch nichts daran ändern, dass sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht gestohlen hatte, das partout nicht mehr verschwinden wollte. Das erste Mal nahm sein Ziehvater Erik ihn mit zu einem seiner Fälle, damit Nikolaj bei den Ermittlungen helfen konnte. Seit Nikolaj alt genug gewesen war, wirklich zu verstehen, was Erik beruflich tat, hatte er immer mitgehen wollen, aber meistens hatte Erik ihn im Hauptquartier zurückgelassen oder wenn, dann auf die Rückbank des alten Wagens verbannt. Jetzt jedoch, wo nur noch wenige Monate zwischen Nikolaj und seiner Volljährigkeit standen, hatte Erik anscheinend beschlossen, dass es Zeit für eine Feuertaufe war.

Nikolaj würde ihm keine Schande machen, sondern ihm beweisen, dass er dieses Vertrauen verdiente.

Erik stieg schwerfällig aus dem Wagen aus. Obwohl er es nie zugab, machte ihm in letzter sein Knie wieder zu schaffen. Schmerzlich wurde Nikolaj bewusst, dass sein Ziehvater auch älter wurde. Irgendwann würde Nikolaj diese Schlachten alleine schlagen müssen.

Um Erik nicht zu kränken, ließ Nikolaj diese ersten Zeichen der Gebrechlichkeit unkommentiert und überspielte es mit Aufregung, mit Enthusiasmus, als er an seine Seite eilte, den Arm um seine Schultern legte und damit seinem schwankenden Stand halt gab. »Und, was machen wir jetzt?«, plapperte er los und ging neben Erik in Richtung des Eingangs des Gebäudes, das als Schutzengelhaus bekannt war und in dem die Leichen gefunden worden waren.

»Wir sehen uns in Ruhe den Tatort an und hoffen, dass uns etwas Ungewöhnliches auffällt, was den Augen gewöhnlicher Ermittler entgangen sein könnte.« Er warf Nikolaj einen Seitenblick zu. »Vielleicht bemerkst du ja etwas. Spürst etwas Übernatürliches. Wir wissen immer noch zu wenig über deine Fähigkeiten.«

Knapp nickte Nikolaj und presste die Lippen fest aufeinander. Ging es Erik darum? Um den Teil seiner Fähigkeiten, der ihn als nicht menschlich auszeichnete? Um das dunkle Erbe seines dämonischen Vaters.

Der Gedanke schmeckte bitter. Die letzten Jahre hatte er alles gelernt, was einen guten Jäger ausmachte, um gerade nicht auf diese Fähigkeiten zurückgreifen zu müssen. Bisher hatte er immer geglaubt, Erik wäre froh darüber, dass er sie kaum einsetzte. Dass er sich bewusst von dieser Seite seines Erbes abgewandt hatte.

Doch in einem Punkt hatte Erik recht: Sie wussten viel zu wenig von Nikolajs Fähigkeiten. Am wenigsten, ob er sein volles Potenzial überhaupt schon erreicht hatte. Neue Fähigkeiten traten immer zufällig auf.

Einmal, als Erik ihm Hausarrest erteilt hatte, war Nikolaj wütend geworden und wollte so sehr aus seinem Gefängnis ausbrechen, dass er sich in Rauch aufgelöst und zwischen den Ritzen entfleucht war. Gleich im Flur hatte er wieder seine Gestalt angenommen, aber hatte gezittert und war weinend zu Emilia, die ihn beruhigt hatte. Alles wäre in Ordnung, sagte sie ihm, wieder und wieder. Aber es fühlte sich nicht so an.  Nachdem er seine Kräfte das erste mal eingesetzt hatte, schien etwas in seinem Inneren verändert zu sein, wenngleich er nicht den Finger darauf legen konnte, was. Als wäre etwas verloren gegangen. Er fürchtete sich so sehr davor, noch mehr von diesem Etwas zu verlieren, dass er sich schwor, seine Fähigkeiten nur im äußersten Notfall einzusetzen. Damals war er erst zehn Jahre alt gewesen, aber er hatte den Schwur gehalten, obwohl das bedeutete, seinen Hausarrest immer brav abzusitzen.

Auch wenn keine Gefahr von ihm ausging, hatte Nikolaj immer versucht, seine Kräfte zu unterdrücken, sie soweit zu regulieren, wie er konnte und jeden Funken Magie in sich zu ersticken. Erst durch Emilia, die ihm wie eine zweite Mutter war, gelang es ihm in letzter Zeit besser, sich seinen Kräften zu öffnen und sie zu erproben. Dennoch wollte er vor allem eines: ein normaler Mensch sein, nicht anders, als die anderen. Er wollte keinen Vorteil daraus schlagen, besonders zu sein.

Er wollte nicht dafür gehasst werden. Die Jäger verabscheuten nichts mehr als Dämonen; Erik hasste keinen von ihnen mehr als Nikolajs Vater.

Was hatte es dann zu bedeuten, dass Erik jetzt von ihm verlangte, diese dämonischen Fähigkeiten einzusetzen? Nikolaj schluckte den Speichel herab, der sich beim langen Grübeln in seinem Mund gesammelt hatte. »Wie gefährlich ist das Wesen, das du hier erwartest?«

»Das Gefährliche ist, dass ich nicht weiß, was ich hier erwarte.«

* * *

Der Flur, in dem die Leichen gefunden worden waren, lag verlassen und still. Ohne die Klebebandumrisse und die vereinzelten, flatternden Reste vom Absperrband hätte Nikolaj geglaubt, dass dieser Ort bereits seit Jahrhunderten verlassen war. Er schauderte und rieb sich über die nackten Oberarme.

Die beiden Umrisse am Boden waren so zierlich und klein, dass es Nikolaj unwirklich erschien, dass es sich dabei um die letzten Spuren zweier Menschen handelte. »Kinder sind so zerbrechlich«, murmelte er und erwartete halb, dass Erik grummelnd Nikolajs Alter kommentieren würde. Doch als er aufsah, blickte sein Ziehvater ihn aus ernsten Augen und mit zusammengepressten Lippen an, bevor er knapp nickte.

»Hier hat das Wesen ihnen aufgelauert. Was fällt dir auf?«

Sollte das ein Test werden? Er hatte die Tatortfotos gesehen und verglich sie mit der Wirklichkeit, die doch immer so viel mehr an Tiefe besaß. »Hier gibt es viele Fenster, doch sie sind von innen verrammelt. Sperren Menschen ebenso aus wie das Licht.« Er blickte zu dem Fenster, durch das die Jungen eingestiegen waren. »Weiß man schon, wo das Mädchen hereinkam?«

Erik schüttelte den Kopf. »Die Spuren lassen keine sichere Aussage zu. Sie war noch nicht lange Tod, wahrscheinlich ist sie nur ein, zwei Stunden vor dem Eindringen der Jungen gestorben. Doch sie hat sich viel länger als die beiden im Gebäude aufgehalten. Sie ist durch das gesamte Gebäude gestromert – vom Keller bis auf die erste Etage. Wenn alle Spuren im Staub wirklich von ihr sind, dann ist sie mehrmals alle Gänge auf und ab gegangen. Mehrere der Fenster auf ihrem Weg waren eingeschlagen. Durch die hätte sie hereinkommen können.«

Warum war sie hierher gekommen? Hatte sie sich auch nur umsehen wollen, wie die beiden Jungen? Oder hatte sie sich so genau umgesehen, weil sie nach etwas bestimmten gesucht hat? Oder sich vor etwas verstecken wollte? »Wir sollten ihren Spuren folgen.«

»Aber erst sollten wir uns hier weiter umsehen.«

»Der Boden ist staubig. Man sieht die Fußspuren ziemlich gut darauf«, fuhr Nikolaj fort. »Was auch immer sie getötet hat, hat keine Spuren hinterlassen. Außer es trug Herrenschuhe in den Größen 43 oder 46.« Er schnupperte. »Der Geruch hängt nur noch sehr schwach in der Luft, aber ich rieche Schwefel. Oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil man immer sagt, dass Dämonen den Geruch von Schwefel zurücklassen.«

»Nicht nur Dämonen. Aber ja, der Schwefelgeruch ist den Ermittlern ebenfalls aufgefallen. Sie haben es nur nicht in den Akten vermerkt, weil es ihnen zu abstrus schien. Der Junge, der überlebt hat, erwähnte es jedoch ebenfalls in seiner Aussage. Noch etwas?«

Nikolaj verneinte und deutete auf die schmalen Fußspuren, die nur von dem Mädchen stammen konnten. »Wir sollten ihnen folgen«, schlug er erneut vor, diesmal mit mehr Nachdruck.

Erik sah sich noch einmal aufmerksam um. »Bist du sicher, dass du nichts übersehen hast?«

»Das bin ich.«

»Ganz sicher?«

Hatte Nikolaj etwas wichtiges übersehen? War hier irgendetwas, was er hätte bemerken sollen?

Erik trat von einem Fuß zum anderen, hatte die Schulter hochgezogen, als wäre er nervös. Wie untypisch. Immer wieder schielte er in Nikolajs Richtung, knetete dabei die Hände.

Er schien ihren Aufbruch hinauszuzögern. Aber warum?

Draußen dämmerte es bereits. Nachts würde dieser Ort gefährlich werden.

Unschlüssig, ob er nicht doch etwas übersehen hatte, senkte er den Blick zu seinen Füßen und rieb sich den Nacken.

Dann begriff er.

Er stand genau an der Stelle, an der der Junge gestorben war. Wo vermutlich auch das Mädchen gestorben war.

»Ich bin nicht hier, um dir bei den Ermittlungen zu helfen, nicht wahr?«, presste Nikolaj hervor und war erstaunt, wie wütend er klang. »Du hast mich nur als Lockvogel mitgenommen.«

Ertappt räusperte Erik sich. »Nikolaj, reg dich bitte nicht auf. Du passt nun mal ins Profil. Ich hab dir das nicht gesagt, weil ich dir keine Angst machen wollte. Ich bin sicher, dass du nicht in Gefahr bist.« Erik wischte sich mit deinem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht und blickte sich noch einmal hektisch um. »Denke ich.«

Angst. Tse. Er hätte keine Angst gehabt. Darum ging es Erik doch gar nicht. Das Gefühl des Verrats brannte in seiner Seele wie Säure, und er brachte kein Wort heraus. Was hatte er sich nur dabei gedacht, zu glauben, Erik würde seinen Wunsch wirklich ernst nehmen.

Er wandte sich ab, schloss die Augen und atmete schwer.

»Nikolaj!«

»Was?«, keifte er. Da spürte er etwas Kaltes in seinem Nacken. Wie der Junge erzählt hatte. Er hätte Angst empfinden müssen, aber die Wut ließ alle anderen Gefühle verglimmen.

In aller Ruhe drehte er sich um und sah das Monster an.

Es bestand aus nichts anderem als schwarzem, wabernden Rauch. Nein, nicht Rauch. Kochender Teer, der sich in jedem Augenblick neu verformte. Ein klaffender Mund, gaffende Augen rissen vor ihm unförmig auf.

Nur beiläufig nahm Nikolaj die Schüsse war, die neben ihm donnerten und durch das Monster glitten, als wäre es nicht da.

Schwarze Fäden lösten sich wie Fangarme aus dem unförmigen Leib. Sie tasteten in Nikolajs Richtung, doch bevor sie ihn berührten, zuckten sie zurück und nach einem Wimpernschlag war das Monster wieder verschwunden.

* * *

»Du hättest mich einweihen müssen. Ich hätte keine Angst gehabt.«

»Aber vielleicht hättest du dich verdächtig verhalten und das Monster abgeschreckt.«

»Das habe ich ja wohl auch so geschafft.«

Die ganze Rückfahrt über ging es so hin und her.

Erik seufzte. »Wärst du mitgegangen, hätte ich es dir gesagt?«

Ohne darauf zu antworten, wandte Nikolaj sich ab, starrte aus dem Fenster und verschränkte die Arme über der Brust. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Doch zumindest wäre es dann seine eigene Entscheidung gewesen.

Und er wäre jetzt nicht so verdammt wütend. »Warum traust du mir nicht zu, wirklich von nutzen zu sein?«

»Du bist noch ein halbes Kind. Das ist zu …« er biss sich auf die Zunge. Die Ironie darin, Nikolaj als Lockvogel zu nutzen, ihn aber gleichzeitig vor den Gefahren der Arbeit schützen zu wollen, war ihm wohl auch aufgegangen. »Du bist nicht einmal mit der Schule fertig. Du sollst eine Ausbildung machen oder ein Studium absolvieren. Du sollst Perspektiven haben.«

»Erik, ich bin ein Halbdämon. Ich habe nur diesen einen Platz, an den ich gehöre und nur ein einziges Ziel, das ich verfolge.« Er sah seinen Vater in Gedanken vor sich und schmeckte Galle. »Wenn du mir andere Perspektiven hättest geben wollen, hättest du mich nicht im Hauptquartier großziehen sollen. Zwischen Dämonenjägern, Vampiren und Hexen.«

»Das war der einzige sichere Ort für dich.«

»Und es wird immer der einzige sichere Ort für mich bleiben.«

Erik seufzte abermals. »Du bist einfach noch zu jung.«

Das war er nicht, und das würde er ihm beweisen.

* * *

Nikolaj hatte sich noch nie nachts aus dem Hauptquartier geschlichen, aber es war einfacher, als er erwartet hatte.

Ihre Belegschaft war in den letzten Jahren stark ausgedünnt und Nikolaj musste nur darauf achten, den beiden Vampirinnen nicht in den Fluren zu begegnen. Er wartete, bis er sicher war, dass Thilda im Labor und Emilia beim Kampftraining war, ehe er von seinem Zimmer zum Aufzug schlich.

Er lauschte immer, wenn er an einem der bewohnten Zimmer vorbeikam, hörte aber nur ruhiges Atmen oder Schnarchen.

Als er schließlich zitternd auf dem Parkplatz stand, sah er sich unschlüssig um. Den blauen Fiat konnte er nicht nehmen. Erik hatte den Schlüssel und Nikolaj keinen Führerschein.

»Das hier ist ein Notfall«, flüsterte er sich zu, schlang die Arme noch fester um sich und schloss die Augen. Er stellte sich das Schutzengelhaus vor, in jedem kleinen Detail, an das er sich erinnerte. Die Scherben am Boden, das gesplitterte Holz in den Fenstern. Das Gefühl des staubigen Bodens unter seinen Füßen, der Wind, der durch die Ritzen im Gebälk pfiff. Der abgestandene, tote Geruch, der in allem hing. Er stellte sich deutlich vor, wie er dort wieder stand.

Und dann war er der Wind, der sich durch die Ritzen quetschte.

Als er die Augen wieder öffnete, stand er an der Stelle, wo die beiden Kinder gestorben waren. Er zitterte, fror und ihm war erbärmlich übel. Halt suchend stützte er sich gegen die Wand ab und kämpfte gegen den Schwindel und den Drang, sich zu übergeben, an. Er siegte nur gegen den Schwindel.

Aber er hatte sein Ziel erreicht.

In der völligen Dunkelheit des Neumondes, die das Gebäude umgab, wirkte es noch schauerlicher als bei Tage. Nikolaj kramte die Taschenlampe aus seinem Rucksack und knipste sie an. Der flackernde Lichtkegel war gerade hell genug, dass er den Spuren des Mädchens, die vom Tatort wegführten, folgen konnte.

Er kannte ihren Namen nicht, wurde ihm da schmerzlich bewusst. Er hatte nicht gefragt, in den Akten nicht darauf geachtet, auch nicht bei den Jungen. Denn ein Name machte sie zu echten Menschen und das machte die Sache noch schrecklicher.

Jetzt bedauerte er, während er ihren Schritte folgte, dass er sie nur als das tote Mädchen kannte.

Er folgte ihr durch den Flur, an hohen Fenstern vorbei, die einen Blick auf die düstere Neumondnacht freigaben. Wind streifte kühl seine Wange und klang wie ein Flüstern. Einzelne Wortfetzen, die keinen Sinn ergaben.

Ein Trick seines Verstandes, nach dem langsam die Angst griff.

Doch je weiter er dem Flur folgte, umso deutlicher glaubte er, sie zu hören. Die Stimmen von Kindern, die miteinander flüsterten und weinten. So durcheinander, dass sie zu einem beständigen Hintergrundrauschen verschmolzen. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und sein Magen krampfte sich zusammen.

Konnten es wirklich die Geister der Kinder sein, die hier drin gestorben waren, weil jemand ihr Leben nicht lebenswert genug fand? Weil sie in einer Welt, in der nur das Ideal existieren durfte, keinen Platz fanden?

Versunken in Gedanken bemerkte er erst, dass er die Spuren des Mädchens aus den Augen verloren hatte, als er am Ende des Ganges angelangt war. Er kehrte um und fand sie wieder: sie führten eine schmale Treppe hinab in den Keller. In pechschwarze Dunkelheit hinein.

Nikolaj richtete den Strahl seiner Taschenlampe die Treppe hinab, doch der schmale Lichtkelch wurde von der Dunkelheit verschluckt. Mühsam kämpfte er das Zittern in seinen Knien nieder und stieg hinunter. Am Fuß der Treppe angekommen atmete er auf, obwohl er keine Erleichterung spürte.

Er schwenkte die Taschenlampe durch den Raum vor ihm. Einen Moment blieb sie an einer Stelle der Wand hängen, reflektierte glänzend rot.

Erschrocken stolperte er zurück, stieß gegen die Stufen und setzte sich mit einem Plumpsen darauf. Instinktiv gruben seine Finger sich in den Stoff seines Hemdes, gleich über seinem rasenden Herzen.

Er hob die Taschenlampe wieder an und richtete sie auf die gegenüberliegende Wand.

Sie waren immer noch da.

Buchstaben aus Blut. Verwischte, winzige Handabdrücke.

Angst! Hilfe!

Nur zwei Worte in kräftigem, tiefen Rot, das im Licht glänzte, als wäre es noch feucht.

Nikolaj atmete stoßweise, kämpfte sich schließlich auf die Beine und ging schlotternd auf die Wand zu. Als er eine Armlänge vor ihr stand, streckte er die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen zaghaft die Buchstaben. Sie waren feucht, doch als er an seinen Fingern roch, erkannte er nicht den charakteristischen Geruch von Blut, sondern den von Verwesung. Faulig und süß strömte er von seinen Fingern, füllte seine Nase. Der Gestank wurde so schwer, so erdrückend, dass Nikolaj kaum mehr Luft bekam. Er schwankte zur Seite, die Taschenlampe rutschte ihm aus der Hand und landete mit einem Klirren auf dem Boden. Das Licht erstarb.

Ohne nachzudenken, rannte Nikolaj los.

Tiefer in die Dunkelheit des Kellers.

* * *

Keuchend und stolpernd kam Nikolaj zum Stehen, lehnte sich gegen die Wand, rutschte daran herab und kauerte sich eng dagegen. Die Knie angezogen und die Arme fest um sie geschlungen. Er hörte nichts außer sein eigenes rasselndes Atmen und sein Herzrasen. In der Finsternis sah er nichts, gleich wie sehr er sich anstrengte.

Aber er spürte etwas.

Das kühlfeuchte Prickeln in seinem Nacken. Und die Präsenz des Monsters, die um so vieles Mächtiger als beim letzten Mal war.

Was war diesmal anders, fragte er sich, während seine Zähne klackerten.

Angst.

Diesmal hatte er panische Angst.

Das Mädchen und der Junge waren vor Angst gestorben.

Das war es, was dieses Monster stärker machte, wovon es sich ernährte.

Der … Angstfresser war wieder dicht vor ihm. Er hörte das Schmatzen von Mund und Augen.

Das letzte Mal hatte er von Nikolaj abgelassen, weil er keine Angst hatte, weil er keine Nahrung bot.

Nikolaj musste sich beruhigen.

Doch die Angst war wie ein rosafarbener Elefant. Je mehr er versuchte, sie aus seinen Gedanken zu verbannen, umso stärker wurde sie. Stattdessen versuchte er an etwas Schönes, etwas Positives zu denken. Aber er konnte sich an nichts erinnern, das nicht von Angst und Sorge befleckt war. War da wirklich nichts in seiner Kindheit und Jugend, an das er sich klammern konnte?

Einen Moment flackerte etwas auf. Hell und strahlend. Kastanienbraune Locken, die seine Nase kitzelten, ein breites strahlendes Lächeln, der Geruch von Orangen. Starke Arme, die ihn festhielten, ihm Schutz gaben. Seine Eltern?

Das Flackern erstarb, sobald er wieder klare Gedanken formte, und die Angst zog ihn wieder in eine kalte Umarmung.

»Bald ist es vorbei«, flüsterte eine eisige Stimme an seinem Ohr. »Bald ist deine Seele mein.«

Etwas schleimiges berührte seine Wange, krabbelte über sein Gesicht, zu seinem Mund, den er vor Schreck aufgerissen hatte, glitt in seine Kehle.

Ich werde sterben. Ich werde sterben. Ich werde sterben.

Dann schrie er vor Schmerzen.

Und dann schrie der Angstfresser, glitt von ihm fort.

Nikolaj würgte, als die Tentakel aus seinem Hals glitt, fiel nach vorne auf die Knie und übergab sich.

Hitze berührte seine Wange. Der Angstfresser jaulte immer noch, und jetzt brannte er, brannte gleißend hell.

Nikolaj rückte von ihm ab.

Die eisige Stimme flüsterte, während der Angstfresser starb, wiederholte die gleichen Worte unentwegt: »Was bist du? Was für ein verteufeltes Monster bist du?«

* * *

Er hatte das Bewusstsein verloren. Das begriff er, als jemand ihn an den Schultern wach rüttelte. Erik.

Sorgenfalten zerfurchten sein Gesicht. »Du dummer Junge!«

»Es ist tot«, murmelte er, »Ich habe es getötet.«

Ein dunkler Teil von mir.

»Aber wie?«

»Da hat sich wohl eine Fähigkeit von mir gezeigt, von der wir noch nichts wussten. Wie praktisch.« Nikolaj zuckte mit den Schultern. »Das Wesen hat sich von Angst ernährt, vielleicht war ich ihm einfach nur zu furchtlos.«

Erik schien zu ahnen, dass dort mehr war, doch er sprach es nicht aus, drängte nicht. »Angst sagst du? Wie lange das Wesen hier wohl schon gelebt und sich von der Angst der Dutzenden Kinder ernährt hatte, die in diesen Mauern gelitten hatten und schließlich ihren Tod fanden?« Er schüttelte sich. »Aber jetzt ist es vorbei.«

»Endgültig.«

* * *

Sie sprachen nie wieder über diesen Tag.

Über das erste Monster, das Nikolaj erlegte.

Der Frieden im alten Schutzengelhaus war wieder eingekehrt, doch Nikolaj bezweifelte, dass er jemals wieder in seiner Seele einkehren würde.

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